Sieben Fragen zum Gerichtsurteil
Darf Semenya nun wieder bei den Frauen starten?

Die Schweiz hat die intersexuelle Leichtathletin Caster Semenya diskriminiert. Das entscheidet der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Blick klärt die wichtigsten Fragen zum Urteil.
Publiziert: 12.07.2023 um 00:13 Uhr
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Emanuel GisiSportchef

Worum geht es im Fall Semenya?

Die intergeschlechtliche Mittelstreckenläuferin Caster Semenya (32) holte über 800 m zweimal Olympiagold und wurde dreimal Weltmeisterin, ehe sie 2019 jäh ausgebremst wurde. Da änderte der Leichtathletik-Weltverband World Athletics (wieder einmal) seine Regeln für intergeschlechtliche Athletinnen – er verlangte für Rennen zwischen 400 m und einer Meile eine Testosteron-Obergrenze von fünf Nanomol/Liter für Frauen. Wer einen zu hohen Testosteronspiegel hatte, musste diesen mit Medikamenten senken. Für viele Beobachter ist klar: Dabei handelt es sich um eine «Lex Semenya».

Warum kam es zur «Lex Semenya»?

Die Südafrikanerin, bei ihrer Geburt als weiblich eingestuft, war ohne Eierstöcke und Gebärmutter geboren worden, dafür mit innenliegenden Hoden und hohem Testosteronwert. Ab 2009 dominierte sie auf der Mittelstrecke und brachte die Verbands-Bosse in Verlegenheit. Die grosse Frage: Ist es fair, sie bei den Frauen starten zu lassen? Mit der Einführung der Testosteron-Limite wurde Semenya der Start auf ihren stärksten Distanzen verunmöglicht.

Warum hat Semenya einen Vorteil?

«Differences of Sex Development», abgekürzt DSD, heisst das Schlagwort in den Sportregularien. Es bedeutet, dass die Körper der betroffenen Frauen meist mehr Testosteron produzieren. Und ihren Konkurrentinnen gegenüber damit einen Leistungsvorteil haben. Da fängt der Ärger an: Entweder werden die DSD-Athletinnen von den Frauen-Wettkämpfen ausgeschlossen und damit diskriminiert – oder sie haben gegenüber ihren Konkurrentinnen in der Frauenkategorie einen deutlichen Vorteil. Darum gelten die DSD-Richtlinien als die umstrittenste Regel im Weltsport.

Teilsieg: Caster Semenya bekommt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Recht.
Foto: keystone-sda.ch
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Was hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nun entschieden?

Dass die Schweiz Semenya diskriminiert hat. «Der Klägerin wurden in der Schweiz keine ausreichenden institutionellen und verfahrensrechtlichen Garantien gewährt, die es ihr ermöglicht hätten, ihre Beschwerden wirksam zu prüfen», heisst es im Urteil, das die kleine Kammer mit 4:3-Stimmen fällte. Zumal die Beschwerden «begründet und glaubwürdig» erschienen. Daher habe der EGMR nicht bestimmen können, «ob die DSD-Bestimmungen, wie sie im Fall der Klägerin angewandt wurden, als objektive und verhältnismässige Massnahme im Hinblick auf das verfolgte Ziel (den Schutz des fairen Wettbewerbs für weibliche Athleten) angesehen werden können».

Was bedeutet das?

Semenya hatte ihren Protest gegen das Startverbot zunächst vor den Internationalen Sportgerichtshof (CAS) in Lausanne VD gezogen. Der hatte 2020 zu ihren Ungunsten entschieden, worauf Semenya vor dem Schweizer Bundesgericht eine Beschwerde einlegte. Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab. So gelangte die Südafrikanerin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und der entschied jetzt, dass die Beschwerde vom Bundesgericht gründlicher hätte geprüft werden müssen – zudem soll die Schweizer Regierung Semenya eine Genugtuung von 60'000 Euro zahlen.

Darf Semenya jetzt also wieder starten?

Nein. Die aktuellen Regelungen für DSD-Athletinnen, die der Verbandsrat im Frühjahr 2023 festgelegt hat, bleiben bis auf Weiteres bestehen. Die Bestimmungen wurden in diesem Jahr nämlich noch einmal angepasst. Um an Frauen-Wettbewerben teilnehmen zu dürfen, müssen Athletinnen zwei Jahre lang einen Testosteronwert von unter 2,5 Nanomol pro Liter Blut (nmol/L) nachweisen. «Es geht uns darum, die Frauen-Kategorien zu schützen», sagte Verbandspräsident Sebastian Coe im März. «Die Fairness und die Integrität des Wettbewerbs werden gegenüber der Inklusion priorisiert», erklärte der Weltverband.

Was sagt World Athletics jetzt?

Der Weltverband ist «nach wie vor der Ansicht, dass die DSD-Regelungen ein notwendiges, angemessenes und verhältnismässiges Mittel zum Schutz des fairen Wettbewerbs in der Frauenkategorie sind, wie sowohl das Schiedsgericht für Sport als auch das schweizerische Bundesgericht nach einer detaillierten und fachkundigen Bewertung der Beweise festgestellt haben», heisst es in einer Stellungnahme. Man wolle sich nun «mit der Schweizer Regierung über die nächsten Schritte abstimmen und sie angesichts der stark abweichenden Meinungen in der Entscheidung ermutigen, den Fall an die grosse Kammer des EGMR zu verweisen, damit eine endgültige Entscheidung getroffen werden kann.» In der Zwischenzeit bleiben die aktuellen DSD-Bestimmungen, die vom Welt-Leichtathletik-Rat im März 2023 genehmigt wurden, in Kraft.

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