Mario Widmer (77), Doyen des Sportjournalismus, blickt zurück
Sogar der Bundesrat schimpfte über den SonntagsBlick

Mario Widmer (77) hat die Sportberichterstattung im SonntagsBlick jahrelang geprägt. Der Doyen des Sportjournalismus erinnert sich an die Anfänge. Und schreibt über die Bedeutung des Sports in der Blick-Gruppe.
Publiziert: 23.03.2019 um 14:55 Uhr
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Aktualisiert: 24.03.2019 um 08:58 Uhr
Mario Widmer

BLICK und SonntagsBlick. Das ist 
die Geschichte eines kometenhaften Aufstiegs. Die wichtigste Komponente des grössten medialen Erfolgs der Schweizer Geschichte ist der Sportteil.

Natürlich werden alle anderen Abteilungen der Zeitungen BLICK und SonntagsBlick bei dieser These protestieren. Ich bleibe bei meiner Behauptung. Und schockiere gleich nochmals alle, die glauben, es besser zu wissen: Der Erfolg dieser Zeitungen ist nicht Produkt grossartiger Pläne oder in den genialen Köpfen der besten Zeitungsmacher zu suchen. Sondern dem Inhalt von ein paar relativ billigen Flaschen Whisky zu verdanken.

Hier folgt die Erklärung. Alle superklugen Expertenrunden wie etwa im «Medienclub» von SRF sollten die folgenden Zeilen einmal sorgfältig lesen, auch wenn sämtliche ihrer komplexen Argumente als Begründung der gegenwärtigen Medienkrise fehlen. Die Realität ist immer so viel einfacher.

Mario Widmer ist ein Urgestein der BLICK- und SonntagsBlick-Sportberichterstattung.
Foto: Geri Born
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Nur zwei Leute für die Sportredaktion

Ich kam 1963 zum BLICK. Die Sportredaktion bestand damals aus zwei Leuten. Rainer Weber, der Chef. Und Walter P. Hottiger, sein Assistent. Rainer war gerade wieder einmal mit einer Scheidung sehr beschäftigt, er hatte aus Chile eine sehr kluge und schöne Frau mitgebracht. Und Walter P., ein Mann aus dem Emmental, musste den Stress der grossen Stadt immer wieder in einem Gläschen Dôle verdünnen. So blieb ich an dieser alten Schreibmaschine. Und übte das Schreiben von Meldungen. Der Sportteil bestand nur aus zwei Spalten.

Ich war zum BLICK gekommen, weil ich als Journalist plante, die Welt zu ­sehen. Die zwei Spalten erlaubten keine grosse Hoffnung. Doch dann half der Whisky. Und das kam so.

Der Chefredaktor war ein toller Typ. Werner Schollenberger. Offizier zwischen den Fronten im Koreakrieg. Er hatte, das ist schliesslich 
in jedem Film so, immer eine Flasche Whisky in seiner obersten Schublade. Am Geburtstag des BLICK-Sports war sie zum Glück leer.

Er schrie: «Rosy, eine neue Flasche.» Rosy war seine, wie man heute sagt, persönliche Assistentin. Wir nannten sie früher geliebte Sekretärin. Rosy schwenkte ihre fantastische Kehrseite – die gab es noch vor #MeToo –, und zwei neue Flaschen waren da. Zur Feier des Tages bekamen wir alle einen Schluck. Der Chef war der Überzeugung, eine gut gelaunte Redaktion würde eine bessere Zeitung produzieren. Und so kam es auch, denn ich packte meine Chance.

Alle schimpften über uns

Die Zeitung von morgen lag noch leer auf dem Desk. Leere Abzüge, nur die Inserate eingezeichnet. Statt dem nächsten Gläschen schnappte ich eine der Seiten und verschwand im Büro der winzigen Sportredaktion. Rainer war weiter mit einer Scheidung beschäftigt, Walter P. mit seinem Dôle, ich füllte die Seite. Dass sie zwischenzeitlich fehlte, wurde erst am Abend bemerkt, da war es zu spät, den Irrtum zu korrigieren. Am nächsten Tag hatte der BLICK einen richtigen Sportteil.

Nun ging es also darum, eine Technik zu erfinden, mit welcher der junge BLICK und bald darauf der noch jüngere SonntagsBlick 
im Wald der seriösen Schweizer Zeitungen bestehen konnte. Die «seriösen» Zeitungen halfen allerdings fleissig mit, indem sie täglich im Chor mit dem Bundesrat über uns schimpften. Und damit natürlich beste Werbung machten.
Jeder war neugierig auf dieses Höllenblatt. Einen guten Rat hatten wir bereits. Die von Chef Schollenberger angeordnete gute Laune, wir versuchten sie täglich zu vermitteln.

Doch es fehlte noch etwas. Und so kommen die nächsten Flaschen Whisky ins Spiel.

Eine ganze Seite Sport. Wir mussten mehr Leute haben. Und bekamen sie auch. Der Verlag mit der Familie Ringier behandelte uns immer sehr grosszügig. Vielleicht war die Sache mit der guten Laune bis in die Teppichetage gedrungen. Und ich konnte meine Pläne in ­Angriff nehmen, die Sportwelt zu bereisen.

Da gab es in Amerika diesen Cassius Clay. Ein sehr eleganter Athlet. Grosses Mundwerk. Wie gemacht, um über ihn zu schreiben. Ab in ­einen Jet der Swissair, Miami, Pink Cadillac, Gym von Angelo Dundee. Und schon, natürlich exklusiv, die ersten grossen Storys im BLICK.

Auf Du und Du mit Mohammad Ali und Norman Mailer

Für alle anderen Schweizer Zeitungen war Cassius Clay nur ein Sprüche klopfender amerikanischer Boxer. So unmöglich wie ein Wilhelm Tell in Badehosen. Und dann der Fight in Houston gegen Ernie Terrell. Während die «NZZ» und der «Tages-Anzeiger» noch versuchten, den BLICK verbieten zu lassen, hatte ich niemanden, mit dem ich Deutsch ­reden konnte, und lernte beim Training im Astrodom zwei Amerikaner kennen. Sie gaben mir weitere Ratschläge, wie man unseren Sportteil noch näher zu den Menschen bringen konnte: Durch «New Journalism», eine ­Erzählform, welche die beiden ­mitentwickelt hatten.

Die erste Lektion erhielt ich von Dick Young, der ein Freund wurde, und von Norman Mailer bei einem Picknick nach einer gemeinsamen dreistündigen Fahrt zum Denkmal von Alamo, wo Texaner 1836 von einer mexikanischen Armee niedergemetzelt worden waren. Ich sass später noch öfter mit den beiden Streithähnen zusammen, am längsten 1974 in Kinshasa (DR Kongo) vor dem «Rumble in the Jungle» zwischen Muhammad Ali und George Foreman.

Dick Young war einer der berühmtesten amerikanischen Kolumnisten, er arbeitete für die «New York Daily News». Er ist der Mann, der den amerikanischen Sportjournalismus aus der Box vom Feld in die Klubhäuser und 
in die Garderoben gebracht hat. Ein unfassbar begabter Schreiber, ein Raubein daneben und ein überzeugter Republikaner und Kritiker von Muhammad Ali. In New York verkauften sie die «Daily News» mit ihm auf dem Plakat. Als er starb, schrieb die «New York Times»: «Immer wieder schrieb er Sätze, die 
im Kontext wie ein Kick in den ­Unterleib wirkten.» Ein Vorbild.

Norman Mailer wiederum gilt als einer der brillantesten ­amerikanischen Schriftsteller überhaupt, er war Soldat im ­Pazifik, schrieb später den Weltbestseller «Die Nackten und die Toten» und war fast so links wie Lenin oder Trotzky, ein fanatischer Fan von Ali. Dazu so heissblütig, dass er einmal eine seiner Frauen in der Wut fast mit dem Messer umbrachte.

Geburtsstunde einer neuen Journalismusform

Ich sass also unter einem Baum, wahrscheinlich einer Pappel, beim Denkmal von Alamo in San Antonio, zusammen mit diesem Dick und Norman Mailer, wir teilten eine Flasche Black Bushmills, und ich hörte den beiden Streithähnen andächtig zu, während wir den dunklen Whisky aus den Kirschenfässern schlürften. Sie sprachen über New Journalism, und das tönte ungefähr so.

«Du mischst ganz einfach Journalismus und Literatur. Wichtig ist natürlich, dass du bei den Fakten bleibst, sie aber in einem subjek­tiven Umfeld so pfefferst, dass die langweilige Zeitungsschreibe verschwindet. Und schon hast du die Menschen an der Angel …»

Ich übte diese Art von Schreibe später immer wieder, vor allem als wir vom BLICK und vom SonntagsBlick während Jahren praktisch exklusiv über die Schweizer Fussball-Nationalmannschaft, den Wechsel bei ihren Trainern berichteten, die Auflagen Jahr für Jahr stiegen. Im Prinzip ist auch diese Rückblende ein bisschen in den New Journalism gewickelt: Die Fakten stimmen gewiss, ihr Umfeld ist häufig in etwas provokative Subjektivität gewickelt …

Als die Redaktion später ausgetrocknet wurde, Rosy und Scholli nicht mehr unter uns waren, ging diese Art von Schreibe mit den Auflagen etwas runter. Ich möchte hier aber nicht verpassen, ganz nüchtern darauf hinzuweisen, dass die ganze Erklärung mit der Verbreitung von guter Laune, Flaschen, den Tipps von Dick und Norman und den Kirschholzfässern eine sehr, sehr persönliche Erinnerung ist und viele, viele sehr gute Leute ohne New Journalism mithalfen, den BLICK und den SonntagsBlick zu dem zu machen, was sie wurden.

Ich werde dieses Jahr 78 Jahre alt. Sollte jemandem das ­subjektive Umfeld um die obigen Fakten nicht gefallen, bitte ich um Milde für das Alter. 

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