Die Kamera hält gnadenlos drauf. Eine gefühlte Ewigkeit versucht Annika Schleu vergeblich, ein panisches Pferd in Bewegung zu setzen – und die Bundestrainerin setzt dem Ganzen die Krone auf. Der Moderne Fünfkampf hat seine olympischen Schlagzeilen – aber ganz anders, als man sich das vor Tokio erhofft hat.
Unendlich lange Sekunden, «eine gefühlte Ewigkeit», wie Annika Schleu selbst sagt, versucht die zu diesem Zeitpunkt noch führende Berlinerin, ihr zugelostes Pferd Saint Boy in den Griff zu bekommen – vergeblich. Als sei das nicht schon genug, setzt Bundestrainerin Kim Raisner (48) noch einen drauf. «Hau drauf, hau mal richtig drauf», ruft sie Schleu zu.
«Pferde quälen sieht anders aus»
Im Gespräch mit dem SID steht Kim Raisner später zu dieser Aussage. «Ich hab gesagt, hau drauf. Aber sie hat das Pferd nicht gequält, in keinster Weise», sagt die Bundestrainerin. «Dass man mal die Beine zumacht oder mal mit der Gerte hinten draufhaut, ist jetzt keine Quälerei. Sie hat probiert, dieses Pferd vorwärts zu reiten. Sie hat dem Pferd nicht im Maul gerissen. Sie hatte keine scharfen Sporen dran. Pferde quälen sieht anders aus.» Trotzdem wurde Raisner von den deutschen Verantwortliche aus dem Verkehr genommen. In Tokio wurde sie von allen Aufgaben und Funktionen entbunden.
Die Bilder gehen viral, Peking-Olympiasiegerin Lena Schöneborn (35) versucht im ARD-Studio, die Wogen zu glätten. «Ich würde das nicht als Tierquälerei bezeichnen, Annika hat die Gerte aus dem Handgelenk bewegt», so Schöneborn, die 2016 in Rio mit dem Pferd Legende dasselbe erlebt hatte. Sie habe, sagt Schleu noch, «versucht, so einfühlsam wie möglich zu sein. Ich glaube, gerade wir Deutschen sind als gute, solide und einfühlsame Reiter bekannt».
«Haben ihr das Telefon weggenommen»
Schleu erreichte nach dem Zwischenfall eine Unmenge an Hassbotschaften. «Sie ist emotional sehr angeschlagen, es bewegt sie sehr, diese üblen Sachen», sagt Raisner. Und weiter: «Wir haben ihr das Telefon weggenommen. Sie liebt Pferde, sie reitet gerne. Wenn du dann solche Nachrichten bekommst, ist das hart.»
Die siebenmalige Dressur-Olympiasiegerin Isabell Werth (57) sieht sich derweil in ihrer Meinung bestärkt. «Fünfkampf hat nichts, aber auch gar nichts mit Reiten zu tun», sagt sie dem SID: «Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben.» Die Reiterin habe ihr leidgetan, so Werth: «Sie ist ein Opfer des Systems im Fünfkampf, das gilt es dringend zu überarbeiten.»
«Irgendwas stimmt da nicht»
Dieses System, das es in Tokio erlaubt, einem Pferd, das mit einer Reiterin zuvor bereits dreimal verweigert hat, erneut zum Einsatz zu bringen. Schleu habe sich sogar noch mit der Pferdebesitzerin ausgetauscht, berichtet Schöneborn, «und die hat gesagt, irgendwas stimmt da nicht, Annika solle schnell einreiten und galoppieren». In so einem Moment, so Schöneborn, «muss die Möglichkeit bestehen, das Ersatzpferd zu nehmen».
Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) spricht in einer ersten Stellungnahme von «Szenen, die dem Ansehen der Sportart schaden. Zahlreiche erkennbare Überforderungen von Pferd-Reiter-Kombinationen sollten für den internationalen Verband dringend Anlass dafür sein, das Regelwerk zu ändern.» Dieses müsse «so umgestaltet werden, dass es Pferd und Reiter schützt.» Das Wohl der Tiere und faire Wettkampfbedingungen für die Athletinnen und Athleten müssten im Mittelpunkt stehen.
«Pferd nicht als Sportgerät betrachten»
Auch der Reiterverband FN reagierte auf die skandalösen Vorfälle beim Fünfkampf. Als Fachverband für den Pferdesport sehe man «die Reiterei im Modernen Fünfkampf kritisch. Unser Verständnis der Reiterei liegt in der Partnerschaft zwischen Mensch und Pferd und nicht darin, das Pferd als Sportgerät zu betrachten», sagt FN-Geschäftsführer Dennis Peiler.
Die Bilder, die man gesehen habe, zeigten «eine klare Überforderung von einigen Reiterinnen und Pferden», erklärt Peiler weiter. Aus Sicht der FN müsse «das Regelwerk dieser Sportart so gestaltet sein und angewendet werden, dass Reiter und Pferd geschützt werden. Hier besteht beim Modernen Fünfkampf offensichtlich dringender Handlungsbedarf».
«Pferde sind hier nur Mittel zum Zweck»
Für Isabell Werth ist dieser Vorfall kein bisschen überraschend. «Die Fünfkampf-Pferde werden kurz vor der Entscheidung mit einem Transporter ins Stadion gekarrt, kein Reiter hat sie vorher gesehen», sagt die Mannschafts-Olympiasiegerin von Tokio. Und: «Es ist keine gewachsene Beziehung, wie sie in diesem Sport mit diesen sensiblen Lebewesen nötig ist. Die Pferde sind hier nur Mittel zum Zweck.» (SID)
Die 32. Olympischen Sommerspiele finden vom 23. Juli bis 8. August 2021 in der japanischen Hauptstadt Tokio statt. Alle Infos zur Eröffnung, Übertragung, Wettkampfterminen, Disziplinen, Neuerungen, Austragungsstätten und Maskottchen erfahren Sie in der grossen Übersicht.
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