Olympia-Legende Michael Phelps
«Dass ich über meine Probleme sprechen konnte, hat mir das Leben gerettet»

Rekord-Olympionike Michael Phelps über Depressionen, Naomi Osaka und Olympische Spiele vor leeren Rängen.
Publiziert: 26.07.2021 um 01:07 Uhr
Emanuel Gisi aus Tokio

Stell dir vor, es sind Olympische Spiele und Michael Phelps (36) macht nicht mit. Zum ersten Mal seit 25 Jahren ist der erfolgreichste Olympionike der Geschichte (23x Gold, 28 Medaillen insgesamt) nicht am Start, wenn im Becken um Edelmetall gekämpft wird. Als ob der Fisch ohne Wasser auskommen müsste. Nach Tokio ist der Amerikaner trotzdem gekommen, er arbeitet als Experte für den US-Sender NBC. Ganz ohne Phelps geht es eben doch nicht bei Olympia. Im Pavillon seines Sponsors Omega gibt er am Sonntag eine Handvoll Interviews. Braungebrannt und deutlich schmaler als früher, die FFP2-Maske sauber montiert, setzt er sich auf einen Stuhl.

Michael Phelps, Sie sind erstmals seit 1996 nur Zuschauer. Wie ist das?
Phelps: Es ist komisch. So seltsam! Gestern Abend in der Schwimmarena war ich richtig aufgeregt, es hat sich angefühlt, als ob ich mich auch auf einen Start vorbereiten würde. Alleine wegen der Atmosphäre. Es ist wirklich komisch, Schwimmen ist ein grosser Teil meines Lebens und die Olympischen Spiele auch.

Die Wettkämpfe finden dieses Jahr ohne Zuschauer statt. Sind das noch Olympische Spiele?
Die Olympischen Spiele sind die Olympischen Spiele. Die Tatsache, dass wir sie austragen, bei allem, was um uns herum auf der Welt los ist, zeigt, worum es geht. Der olympische Gedanke, die Welt zusammenzubringen, ist ein grosser Gedanke. Das ist es, was ich die letzten 25 Jahre erlebt habe. Man findet einen Weg, um Dinge möglich zu machen. Es ist verrückt, zu sehen, welcher Aufwand betrieben werden musste. Tokio macht einen phänomenalen Job.

23-mal Gold: Michael Phelps, meistdekorierter Olympionike der Geschichte.
Foto: Keystone
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Wie ist es für die Athleten?
Aus Athletensicht sind die Spiele sowieso genauso viel wert wie die anderen. Alle Sportler hier sind jetzt Olympioniken. Das kann ihnen niemand mehr wegnehmen. Die Leute rund um den Globus schauen doch auch jetzt zu, fiebern mit, rasten aus. So wie ich auch.

Könnten Sie unter diesen Bedingungen schwimmen?
Ob ich Leistung bringen könnte? Oh ja! Ich würde schon dafür sorgen, dass ich schwimmen könnte und dass ich es schnell kann (lacht). Aber ohne Fans ist es schwierig, die Umstände könnten schon ein Grund dafür sein, warum wir langsamere Zeiten sehen als früher. Die Unterstützung von aussen fehlt.

Zu der Frau, die die grosse Figur der Spiele werden soll, hat Phelps eine besondere Verbindung: Naomi Osaka. Nachdem sich die US-Japanerin mit Verweis auf ihre Depressionen von den French Open zurückgezogen hatte, meldete sich der Ex-Schwimmer bei der Tennisspielerin. Seine Botschaft: Osaka könnte «damit ein Leben gerettet» haben.

Erfolgreiche Sportler werden oft zu Übermenschen stilisiert, perfekt und ohne Schwächen. Sie aber stehen Athleten bei, die über Depressionen reden. Warum?
Während meiner aktiven Zeit glaubte ich auch lange, es sei ein Zeichen von Schwäche, wenn man Verwundbarkeit zeigt. Aber das komplette Gegenteil ist richtig. Nur so kann man wachsen. Ist es schwierig, über manche Dinge zu reden? Ja! Ich habe es mehrfach durchgemacht, es ist manchmal beängstigend. Aber es lohnt sich. Jeder sollte wissen, dass es okay ist, nicht okay zu sein. Dass es okay ist, Probleme und gewisse Gedanken zu haben. Aber man muss darüber reden, offener als bisher. Das hilft nicht nur einem selber, sondern vielleicht auch jemand anderem.

Phelps weiss, wovon er spricht. Schon früh in seiner Karriere kämpfte er mit Depressionen. 2004 und 2014 wurde er wegen Fahrens in betrunkenem Zustand verurteilt, 2009 tauchten Bilder von Phelps beim Kiffen auf, er wurde suspendiert und verlor einen Sponsorenvertrag. Nach den Spielen fiel er jeweils in ein Loch, nach London 2012 dachte er auch über Suizid nach. Die zweite Alkoholfahrt 2014, mit 1,4 Promille bei deutlich überhöhter Geschwindigkeit, und die Folgen davon hätten ihn gerettet, sagt er heute. Mit 30 Jahren habe er endlich gelernt, zu kommunizieren.

Wird für die psychische Gesundheit von Sportlern, gerade im jungen Alter, genug getan?
Lange war das nicht der Fall. Man fängt jetzt damit an, etwas zu tun. Immer mehr Menschen verstehen endlich, dass das reale Probleme sind. Es ist traurig, dass es so lange gedauert hat, aber gleichzeitig cool, was sich in den letzten fünf Jahren getan hat. Schauen sie sich Naomi Osaka an. Es ist ein Game-Changer, was sie mit ihrer Reichweite gemacht und durchgezogen hat. Ich möchte mehr Menschen dazu ermutigen, darüber zu sprechen, was sie durchmachen. Ich gebe es zu: Das hat mir das Leben gerettet. Ich würde jeden ermuntern, über seine Probleme zu reden.

Wie erklären Sie sich diesen Wandel in den letzten Jahren?
Die Athleten merken, dass es ihnen hilft, auch über Gefühle zu reden, die Angst machen und für die manche Leute sie vielleicht verurteilen. Das Leben ist zu kurz, um nicht du selber zu sein. Ich bin ein Fan davon, sich selber eine Chance zu geben. Bei allem. Wenn wir als Sportler doch alles dafür tun, um körperlich stärker zu werden, warum vernachlässigen wir dann die mentale Seite? Wenn man sich jeden Tag diese besten Möglichkeiten bietet, kann man Grosses erreichen.

Grosses erreicht hat auch schon Caeleb Dressel, der Star im US-Schwimmteam. Glauben Sie, dass er Sie dereinst übertrumpfen kann?
Das wird die Zeit zeigen. Was er die letzten Jahre erreicht hat, ist offensichtlich beeindruckend. Er ist schnelle Zeiten geschwommen und er ist in der Lage, das konstant zu tun. Er bringt so viele phänomenale Details mit: Die Starts, die Wenden, er ist unter Wasser stark und seine Einstellung ist es sowieso. Aussergewöhnlich. Die Zeit wird zeigen, an wie vielen Olympischen Spielen er teilnehmen will. Er kann Grossartiges schaffen, aber ich vergleiche uns nicht so gern, wir sind unterschiedlich, haben unterschiedliche Stile.

Ein bislang völlig unbekanntes Gesicht war der Tunesier Ahmed Hafnaoui, der mit 18 Jahren sensationell Gold über 400 m geholt hat. Wie haben Sie das Rennen gesehen?
Sowas begeistert mich. Es zeigt auch, wie sich das Schwimmen verändert hat. Früher hiess es USA gegen Australien. Heute haben so viele Länder die Möglichkeit, starke Schwimmer herauszubringen. Der Junge hat seine persönliche Bestzeit um fast fünf Sekunden verbessert. Aussen auf Bahn 8, niemand hat ihn zuerst überhaupt gesehen. Es war super. Ich bin jemand, der weiss, was es heisst, ein Ziel und einen Traum zu erfüllen. Das war so ein grosser Moment. Darum geht es bei den Spielen.

Persönlich

Michael Phelps (36), aufgewachsen in Baltimore (USA), ist der meistdekorierte Olympiateilnehmer der Geschichte: 23 Goldmedaillen und 28 Medaillen insgesamt sind einsamer Rekord. Ebenfalls absoluter Höchstwert: Die acht Goldmedaillen, die er 2008 in Peking holte. Zwischen 2000 (ohne Medaille!) und 2016 nahm er fünfmal in Folge an Olympischen Sommerspielen teil. Insgesamt 39-mal stellte er einen neuen Weltrekord auf, 26-mal wurde er Weltmeister. Nach den Spielen 2012 beendete er ein erstes Mal seine Karriere, ehe er 2014 noch einmal zurückkehrte und in Rio 2016 noch einmal fünf Goldmedaillen gewann. Danach trat er endgültig zurück. Phelps lebt heute mit Ehefrau Nicole und drei Kindern in Arizona.

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