«Ich bin immer noch der gleiche wie vorher, einfach im Sitzen»
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Der Paraplegiker läuft wieder:«Ich bin immer noch der gleiche wie vorher»

«Gab keinen Tag, an dem ich aufgeben wollte»
Gelähmter Ex-Bobfahrer läuft dank Roboterbeinen wieder

Fünf Jahre nach seinem tragischen Trainingsunfall bestreitet der gelähmte Ex-Bobfahrer Thomas Krieg (33) seinen ersten Wettkampf. Er läuft! Mit Roboterbeinen am Cybathlon.
Publiziert: 08.11.2020 um 14:44 Uhr
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Aktualisiert: 03.03.2021 um 12:27 Uhr
Nicole Vandenbrouck (Text) und Valeriano Di Domenico (Fotos)

Im Rollstuhl fährt Thomas Krieg auf die Übungsfläche im Forschungsgebäude der Ostschweizer Fachhochschule in Rapperswil-Jona. Wenige Minuten später steht der Paraplegiker auf und läuft los! Dank dem Exoskelett «VariLeg enhanced», einem robotischen Stützapparat. Roboterbeinen.

Auf Krieg wartet ein Parcours mit sechs Aufgaben, die er ablaufen und bewältigen muss. Es ist das zweitletzte Training vor dem Cyb­athlon von nächster Woche (siehe Box unten) – dem ersten Wettkampf des Ex-Bobfahrers seit seinem Unfall.

Drei Wochen Intensivstation

Der Unfall. Über fünf Jahre ist er her. Es passiert am 18. Februar 2015 am St. Moritzer Bob-Run. Auf der zweiten Trainingsfahrt in der zweitletzten Kurve der verhängnisvolle Sturz: Den Bob kehrt es um 180 Grad auf den Kopf. Krieg wird rausgeschleudert. Als der Streckenposten warnt, dass der Schlitten vom steilen Auslauf her zurückfährt, kann der Bremser die Bahn nicht verlassen – er spürt seine Beine zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr.

Thomas Krieg war einst Bob-Bremser, heute sitzt er im Rollstuhl.
Foto: Valeriano Di Domenico
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Drei Wochen liegt der Bauführer aus Ermenswil SG auf der Intensivstation der Zürcher Uni-Klinik Balgrist. Erinnern kann er sich an keine Minute davon. Denn es sind die schwersten Tage seines Lebens. «Ich weiss nichts mehr von diesen drei Wochen, obwohl ich immer ansprechbar war. Ich will es auch nicht mehr wissen», erzählt Krieg, dessen 12. Brustwirbel zertrümmert worden ist. Natürlich habe er am Anfang mit seinem Schicksal gehadert. «Doch eine Woche nach der Intensivstation habe ich mich mental gefasst. Ich hatte den starken Willen, aus dem Spital in meinen gewohnten Alltag zurückkehren zu können.»

«Ich sehe nicht die Hürden»

Seine Eltern, die drei Geschwister, der private, geschäftliche und sportliche Freundeskreis unterstützen ihn dabei enorm. Der Anruf seines Chefs an seine Eltern mit der Zustimmung, dass Thomas den Job als Bauführer behalten kann, egal wie die körperliche Situation für ihn sein wird, gibt dem damals 28-Jährigen die nötige Sicherheit. Nur viereinhalb Monate nach dem tragischen Unglück darf Krieg heim.

Der mittlerweile 33-Jährige hat das Leben angenommen, das ihm das Schicksal aufgebürdet hat. Er lässt sich nicht einschränken, liebt die Freizeit mit seinen Kumpels. Macht Ausflüge und sogar Ferien mit Husky-Schlittenfahrten. Zudem ist er neben seinem Beruf noch als Mentaltrainer beim NLB-Unihockeyteam Red Devils March Höfe tätig.

«Ich hatte nie einen Tag, an dem ich aufgeben wollte. Ich sehe nicht die Hürden im Leben, sondern die offenen Türen.» Krieg sagt dies mit Überzeugung und einem Lachen. Er kann problemlos über alles reden. Zum Beispiel darüber, dass es eine Aufzeichnung des Unfalls gibt, er sie sich aber nie angeschaut hat. Was ihm nebst der Lebensfreude und seinem genialen Umfeld bei der Verarbeitung hilft: Er schildert den Schicksalsschlag immer wieder.

Das schlimmste Gefühl am Anfang

Krieg möchte kein Mitleid, sondern Verständnis für Menschen im Rollstuhl. Anfangs ist er noch mit Berührungsängsten konfrontiert. Leute fragen seine Eltern, wie sie mit ihm umgehen sollen. «Ich erkannte schnell, dass ich ihnen diese Hemmschwelle nehmen muss.» Dies tut er mit viel Humor und beeindruckender Offenheit.

«Der Gedanke, nicht mehr laufen zu können, ist schlimm. Aber eine Lähmung bringt noch andere Erschwernisse mit sich. Wie zum Beispiel das Blasen-/Darm-Management, das fehlende Gefühl für Wärme oder Kälte vom Bauchnabel abwärts, oder das Risiko von Druck­stellen.» All dies beeinflusst die Lebensqualität eines Querschnittgelähmten. Unter Phantomschmerzen leidet Krieg nie. Das schlimmste Gefühl für ihn am Anfang: dass er gedanklich die Bewegungen nicht mehr ansteuern kann.

«Im Bob war ich nur Bremser»

Diese Gefühle und Gedanken sind zurückgekehrt – im Exoskelett. Mittlerweile befindet er sich auf der dritten Übungsrunde. Der Schweiss tropft. «Im Krafttraining schwitze ich sonst nie so stark», witzelt er. Die Ur­sache dafür ist, dass sich sein Körper nicht mehr an Anstrengungen in aufrechter Haltung gewöhnt ist.

Seit 2018 arbeitet Krieg mit dem «VariLeg enhanced»-Team der ETH Zürich und der OST Ostschweizer Fachhochschule auf diesen Cybathlon hin, er ist einer von zwei sogenannten Exo-Piloten. «Im Bob war ich immer der Bremser, jetzt bin ich der Pilot.» Der Schalk in den Augen blitzt auch bei grösster Anstrengung auf. Obwohl der einstige Sportler sagt, dass es anstrengender aussieht, als es für ihn ist. Denn Kriegs Ober­körper ist immer noch stark bemuskelt. An den Oberschenkeln hingegen hat er 37 cm Umfang verloren.

«Bin immer noch der Gleiche»

Wie ist das Gefühl für einen Querschnittgelähmten, der seine Beine nicht spürt, wieder laufen zu können? «Das ist schwierig zu beschreiben, es ist schräg. Es ist nicht so, wie ich es von früher her kenne. Aber es ist schön, die Welt ab und zu wieder von 1,82 Meter betrachten zu können. Und dem Körper tut es gut.»

Kriegs Sport-Vergangenheit hilft ihm nicht nur physisch, sondern vor allem auch mental. Denn sein Ehrgeiz ist derselbe wie als Bobfahrer, «vielleicht sogar etwas grösser». Insbe­sondere auf den kommenden Cyb­athlon hin. Er möchte mit seinem Team möglichst gut abschneiden.

Der Unfall hat das Leben von Thomas Krieg verändert – aber nicht den Menschen. Das ist wahre Grösse. «Ich bin immer noch der Gleiche wie vorher, einfach im Sitzen.»

Das Exoskelett

Das Exoskelett «VariLeg enhanced» wird in Zusammenarbeit von 12 Studenten der ETH Zürich und 3 der OST Ostschweizer Fachhochschule ­Rapperswil entwickelt. Es wiegt circa 38 Kilo. Zwei leistungsstarke Motoren auf Knie- und Hüfthöhe ermöglichen die Bewegung. «Der Pilot löst an einer der Krücken diese Bewegungen mit dem Daumen aus», erklärt der Ingenieur Raphael Schröder. Dafür stehen ihm Modi wie Treppenlaufen aufwärts und ­abwärts oder fortlaufendes ­Laufen zur Verfügung.

Das Exoskelett «VariLeg enhanced» wird in Zusammenarbeit von 12 Studenten der ETH Zürich und 3 der OST Ostschweizer Fachhochschule ­Rapperswil entwickelt. Es wiegt circa 38 Kilo. Zwei leistungsstarke Motoren auf Knie- und Hüfthöhe ermöglichen die Bewegung. «Der Pilot löst an einer der Krücken diese Bewegungen mit dem Daumen aus», erklärt der Ingenieur Raphael Schröder. Dafür stehen ihm Modi wie Treppenlaufen aufwärts und ­abwärts oder fortlaufendes ­Laufen zur Verfügung.

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Der Cybathlon

Ein Wettkampf für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Sie müssen alltagsrelevante Aufgaben lösen mit Hilfe modernster technischer Assistenzsysteme. Die Disziplinen:

  • Fahrradrennen mit elektrischer Muskelstimulation.
  • Virtuelles Rennen mit Gedankensteuerung.
  • Parcours mit …: Armprothesen, Beinprothesen, robotischen Rollstühlen, robotischen Exoskeletten.

Bei letzterer ist Thomas Krieg dabei. In zehn Minuten muss er sechs Aufgaben möglichst fehlerfrei lösen: Sitzen und Stehen, Tisch-Slalom, unebenes Terrain, Treppe mit Handlauf, schräge Rampe, Rampe und Tür. Bei Punktgleichheit gewinnt der Pilot mit der besseren Zeit. Nach 2016 in Kloten findet der zweite Cybathlon 2020 am 13./14. November coronabedingt global statt. Es treten 60 Teams aus 20 Ländern an 40 verschiedenen Orten im Fernduell an. Der Wettkampf kann live auf www.cybathlon.com mitverfolgt werden. (nv)

Ein Wettkampf für Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen. Sie müssen alltagsrelevante Aufgaben lösen mit Hilfe modernster technischer Assistenzsysteme. Die Disziplinen:

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