Rührende Geste in Erinnerung an Mäder (†26)
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Weisse Taube statt Startschuss:Rührende Geste in Erinnerung an Mäder (†26)

Der Tour-Tross verarbeitet den Tod von Gino Mäder (†26)
«Wenn wir die Augen schliessen, ist Gino immer noch bei uns»

Einige steigen aus, viele machen weiter: Die Tour de Suisse rollt wieder. Gino Mäders Tod hinterlässt aber viele seelische Narben.
Publiziert: 18.06.2023 um 10:57 Uhr
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Aktualisiert: 18.06.2023 um 18:22 Uhr

Die Sonne strahlt, der Himmel ist stahlblau. Und doch hängen dunkle Wolken über der Tour de Suisse. Einen Tag nach dem Tod Gino Mäders (✝26) versucht man, sich wieder der Normalität zu nähern – ganz im Wissen, dass nichts mehr normal ist. Wie schafft man das? Die Tour-Bosse entscheiden sich am Freitag kurz vor Mitternacht, dass das Rennen fortgesetzt wird. Auch die Tour der Frauen wird wie geplant gestartet.

Eine richtige Massnahme? «Heute gibt es keine richtigen Entscheidungen», sagt Belgiens Rad-Star Wout von Aert (28) am Start in Tübach SG. Tour-Direktor Olivier Senn dagegen meint: «Heute gibt es keine falschen Entscheidungen.» Tönt widersprüchlich, ist es aber nicht. Denn: Für einmal sind in diesem Sport, wo sonst oft nur das nackte Resultat zählt, einzig die Gefühle wichtig.

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Van Aert zum Mäder-Unglück:«In der Nacht erst verstanden, was wirklich passiert ist»

Drei Teams steigen vor dem Rennen aus

Drei Teams entscheiden sich dafür schon früh, die Tour zu verlassen: Mäders Mannschaft ist die erste. Auch Tudor Pro Cycling, die Equipe von Rad-Legende Fabian Cancellara, zieht sich zurück. Mediensprecher Kilian Pfyfer erklärt, dass man nicht bereit sei, zur Tagesordnung überzugehen: «Keiner unserer Fahrer fühlt sich in der Lage, wieder rennmässig aufs Velo zu steigen.» Und auch Intermarché, das Team von Biniam Girmay (23), steigt aus – der Eritreer gewann die zweite Etappe in Nottwil im Sprint.

Der Tod von Gino Mäder berührt die Menschen nach wie vor sehr. Dennoch wird die 7. Etappe gestartet.
Foto: Getty Images
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Um 11:25 Uhr erklärt Senn, warum die Tour nicht abgebrochen wird: «Ich war immer in Kontakt mit Andreas, Ginos Vater. Es war für mich entscheidend, den Wunsch der Familie zu hören. Sie hat sich dafür ausgesprochen, dass wir weitermachen.» Senn tritt daraufhin sofort in Kontakt zu den Teams, den Bereichsleitern und der UCI. Sie geben auch grünes Licht. «Dass einige Teams und Fahrer ausgestiegen sind, kann ich verstehen. Jeder soll und darf auf sein Herz hören», so Senn.

Genau das tun auch die Schweizer Fahrer. Marc Hirschi (24), der schon zu jungen Jahren mit Mäder trainierte, taucht nicht am Start auf. Auch die Unterschrift von Stefan Küng (28) fehlt auf dem Einschreibebogen – neben seiner Startnummer 81 klafft eine Lücke. Der Thurgauer hätte am Sonntag zu den Favoriten im Einzelzeitfahren gezählt – er gewann bereits zum Auftakt in Einsiedeln SZ. Schliesslich verzichtet auch Michael Schär (36) auf die Fortführung seiner letzten Tour de Suisse.

«Er war einfach ein sehr guter Mensch»

Von den ursprünglich 12 gestarteten Schweizern sind nur noch drei dabei: Stefan Bissegger (24), Reto Hollenstein (37) und Silvan Dillier (32). Letzterer meint: «Jeder geht mit der Situation anders um. Wenn ich während des Rennens merke, dass es nicht mehr stimmt, höre ich auf.»

«Gino ist immer noch bei uns»
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Rad-Freund Dillier emotional:«Gino ist immer noch bei uns»

Dillier blickt auf jene Zeit zurück, als er mit Mäder auf der Bahn ein Team bildete. «Gino war schon damals angenehm und aufgestellt – einfach ein sehr guter Mensch.» Dann spricht Dillier über ein Gespräch mit seinem ältesten Sohn Ilja (3), der den Tod Mäders noch nicht ganz verstehen kann. «Ich habe ihm erzählt: Wenn wir die Augen schliessen, ist Gino immer noch bei uns. Er bleibt bei uns.»

Um 12.15 Uhr erfolgt der Start. Ohne den üblichen Knall, dafür mit einer Schweigeminute. Man lässt in Mäders Gedenken eine Taube fliegen, dann folgt Applaus. Georges Lüchinger, die Stimme der Tour, moderiert alles mit der nötigen Empathie. «Ich bin immer noch daran, alles zu verarbeiten. Das ist meine 30. Schweizer Landesrundfahrt. Vorgestern habe ich noch ein Interview mit Gino gemacht, und nun sehe ich ihn nie wieder.»

Der Tour-Leader verlor einen Freund

Den Zuschauern am Strassenrand wird sofort klar: Es wird nicht so gefahren wie sonst, das Peloton bewegt sich geschlossen über 183,5 Kilometer. Man bummelt nicht, aber auf Ausreissversuche und Angriffe wird verzichtet. Schon vorher hatte die Tour-Direktion beschlossen, dass es weder bei den Zwischensprints noch im Ziel Bonussekunden geben würde. Und: 25 Kilometer vor dem Ziel wird die Zeit für die Gesamtwertung genommen.

«Es ging darum, den Druck herauszunehmen. Damit jene, die sich nicht wohlfühlen, im Finale nicht voll fahren müssen», so Senn. Mattias Skjelmose (22) verteidigt seine Führung in der Gesamtwertung problemlos. «Vor einigen Jahren habe ich einen guten Freund von mir in einem Rennen verloren. Das war damals sehr hart – so wie es auch heute hart ist», sagt der Däne.

Glocken werden nicht geschwenkt

Immer wieder sind entlang der Strecke Transparente zu sehen. «Gino, wir vermissen dich», steht da geschrieben. Auch: «Gino, du bleibst mit uns.» Und: «Gino, wir lieben dich.» Stefan Küngs Fanklub erweist Mäder ebenfalls die Ehre, er steht in Rossrüti TG.

So wie die Fahrer Trauerflor am Oberarm tragen, sind auch bei den Fahnen des Fanklubs schwarze Maschen zu sehen. Küngs Onkel, Fritz Leu, sagt: «Stefan ist zu Hause und versucht, alles zu verarbeiten. Wir haben die Glocken dabei, schwenken sie aber nicht, sondern applaudieren nur.»

Evenepoel und Christen siegen für Mäder

Auf den letzten 25 Kilometern nimmt das Rennen dann Fahrt auf. Es folgen die ersten Attacken, Konterangriffe, einige Fahrer fallen in den Steigungen zurück. Es ist fast alles wie sonst.

Und dann erreicht Blick ein Whatsapp-Bild von Jan Christen (18), dem grossen Schweizer Rad-Talent. Der Absender ist Bruno Diethelm – er begleitet seinen Schützling beim Giro Next Gen, dem Giro d’Italia für Nachwuchsfahrer. «Solosieg von Jan», schreibt er. Das Foto zeigt Christen, wie er mit beiden Zeigefingern zum Himmel zeigt. «Ich bin heute gestürzt, wieder aufgestanden und habe die Königsetappe gewonnen. Es ist unglaublich. Gestern war ich geschockt, konnte kaum schlafen. Und nun dies. Dieser Sieg ist für Gino», sagt er am Telefon.

Kurz darauf gewinnt Remco Evenepoel (23) in Weinfelden. Auch der belgische Weltmeister erreicht das Ziel allein. Und auch er zeigt mit dem Finger in den Himmel. Er meint: «Für mich gibt es keinen besseren Weg, um Gino zu ehren, als mit diesem Sieg.»

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