Foto: Lea Ernst

Schachboom wegen Netflix-Serie
Die Schachmeisterli

Schach boomt: Wegen Corona und der Netflix-Serie «Das Damengambit» ist das uralte Brettspiel so beliebt wie nie zuvor. Doch wer professionell spielen will, muss früh anfangen. Wir haben zwei Kinder besucht, die auf dem besten Weg sind, Schachprofis zu werden.
Publiziert: 27.12.2020 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 27.12.2020 um 13:43 Uhr
Übung macht den Schach-Meister: Nora (l.) spielt eine Partie gegen ihren Bruder Jordi, der ebenfalls bereits ins Schach-Training geht. Ihre Mutter Emma kennt die Regeln des Spiels, würde sich jedoch als Anfängerin bezeichnen.
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«Wie kann Schwarz hier langfristig seine statische Bilanz verbessern?», fragt der Schach-Trainer seine Schüler. Vier Hände mit vier unterschiedlichen Vorschlägen schiessen in die Höhe. Es ist bereits lange nach Schulschluss an einem Mittwochabend in Luzern. Doch für Schach-Neulinge ist die Frage etwa ebenso leicht verständlich wie eine Uni-Vorlesung in Quantenphysik. Die Kinder haben drei Dinge gemeinsam: Sie verbringen ihren Mittwochabend lieber mit Narrenmatt statt Netflix, sind die Spitze des Schweizer Schach-Nachwuchses, und sie werden immer mehr.

Obwohl weltweit etwa doppelt so viele Leute ab und zu Schach spielen wie Fussball, flog der Denksport lange unter dem Radar der Öffentlichkeit. Doch während Corona tat das mit älteste Spiel der Welt das, was wohl keine andere Sportart von sich behaupten konnte: Es boomte. Kein Wunder, lässt es sich doch perfekt ins Internet verlegen. Und als wäre das nicht schon Rummel genug, richtete Netflix im Oktober mit der Serie «Das Damengambit» noch einen zusätzlichen Scheinwerfer auf die 32 Holzfiguren. Die Zahl der Fans explodierte praktisch über Nacht: Auf Ebay stieg die Nachfrage nach Schachbrettern in den Tagen nach Serienstart um satte 273 Prozent. Bei Spiel- und Trainings-Website Chess.com sei die Zahl der täglichen Registrierungen um 400 Prozent gestiegen.

Netflix-Hit: Das Damengambit

Vom Kinderheim bis an die Spitze des Weltschachsports: Der Netflix-Hit «Das Damengambit» erzählt die fiktive Geschichte des Waisenkinds Beth Harmond, die die hart konkurrierende Männerdomäne mit ihrem Schach-Talent und ihrer Eigenwilligkeit auf den Kopf stellt. Die siebenteilige Serie inmitten einer extravaganten Sechziger-Jahre-Kulisse ist so raffiniert in Szene gesetzt, dass sie die Welt diesen Herbst im Sturm eroberte. Mehr als 60 Millionen Haushalte haben die Literaturverfilmung allein im ersten Monat gestreamt – ein Rekord unter den Netflix-Miniserien. Und zugleich Auftakt eines nie zuvor gesehenen Schach-Booms.

Vom Kinderheim bis an die Spitze des Weltschachsports: Der Netflix-Hit «Das Damengambit» erzählt die fiktive Geschichte des Waisenkinds Beth Harmond, die die hart konkurrierende Männerdomäne mit ihrem Schach-Talent und ihrer Eigenwilligkeit auf den Kopf stellt. Die siebenteilige Serie inmitten einer extravaganten Sechziger-Jahre-Kulisse ist so raffiniert in Szene gesetzt, dass sie die Welt diesen Herbst im Sturm eroberte. Mehr als 60 Millionen Haushalte haben die Literaturverfilmung allein im ersten Monat gestreamt – ein Rekord unter den Netflix-Miniserien. Und zugleich Auftakt eines nie zuvor gesehenen Schach-Booms.

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«Das Damengambit» ist keine Serie für Kinder. Doch wer im Denksport Schach richtig gut werden will, muss früh anfangen, sagt Peter Hug (32). Als Präsident des Vereins «Die Schulschachprofis» organisiert er in Luzern und weiteren Schweizer Städten Schach-Trainings und Turniere. Hug weiss: «Um schlussendlich Schachmeister zu werden, musste man früher sein Leben lang spielen. Aber der heutige Schachweltmeister, Magnus Carlsen, ist gerade mal dreissig Jahre alt».

Hug beobachtete in den letzten sechs Jahren eine starke Professionalisierung in der Schachwelt. «Schweizweit und überregional tätige Vereine wie wir sind wie Pilze aus dem Boden geschossen und organisieren Trainings und Turniere», sagt er. «Zudem wird in Lehrbüchern oder Apps das gesamte Lebenswissen von Schachmeistern gesammelt und den Kindern kompakt und spielerisch vermittelt.» Dass Schach die Konzentration fördere, sei gemäss Hug aber nur ein schöner Nebeneffekt. «In Schach lässt es sich einfach wunderbar versinken. Es ist eine komplett eigene Welt, die nicht nur für Erwachsene gedacht ist», sagt Hug, der alle 502 Kinder des Vereins mit Namen kennt.

Viele Kinder wissen gar nicht, dass ihnen diese Welt offensteht. Und das überrascht nicht: Mit dem schnörkellosen Design in Schwarz und Weiss scheinen Kinder nicht gerade die Hauptzielgruppe des 1500 Jahre alten Spiels zu sein. Kinder sitzen weniger gerne still als Erwachsene und zeichnen sich eigentlich nicht gerade durch ihr strategisches Denken aus. Wie hat es Hug trotzdem geschafft, die Kinder für Schach zu begeistern? «Oft spielen bereits die Eltern und bringen die Regeln dann auch ihren Kindern bei», sagt Hug. «In Kindergärten führen wir spielerische Probetrainings durch.» Zeige ein Kind dort Gefallen an Schach, werde es von den Schulschachprofis zum richtigen Training eingeladen. «Dort zeigt sich dann schnell, ob das Kind tatsächlich Spass daran hat oder ob es von den Eltern dazu überredet worden ist.»

Ein Weihnachtsgeschenk mit Folgen

Bei Tomek (9) war ein Weihnachtsgeschenk der Auslöser seiner Begeisterung. Nach dem Theorie-Teil des Mittwochabends sitzt er gerade seinem Herausforderer gegenüber, den Kopf tief in den Händen und noch tiefer in seinen Gedanken versunken. Mit dem soeben erlernten Wissen versucht er, stets vier bis fünf Schritte vor seinem Gegner zu sein. Doch die Zeit läuft, das zeigt die kleine Schach-Uhr neben dem Spielfeld. Nach jedem Zug ein kurzes Aufatmen – denn die eigene Uhr darf gestoppt werden, solange der Gegner am Zug ist.

Als Tomek sechs Jahre alt war, lag da plötzlich ein Schachbrett unter dem Christbaum. Seine Eltern spielen nicht Schach, es war keines von ihren Geschenken. Doch je besser Tomek die Regeln lernte, desto öfter wollte er spielen. Mittlerweile ist es etwa eine Stunde pro Tag, die er neben dem Fussball oder Judo für Schach reserviert. «Zuerst haben meine Freunde es nicht so ernst genommen», sagt Tomek. «Doch das hat sich geändert, als ich dann meine ersten Turniere gewonnen habe.» Bereits jetzt ist Tomek einer der besten Schachspieler seiner Altersstufe. Was ihm am Schach so gut gefalle? «Das Rivalisieren, das Denken und das tolle Gefühl nach einer gewonnenen Partie», strahlt er.

Nach wie vor ist die Mehrheit der Schachwelt männlich. Nachdem Frauen im Mittelalter noch gleichberechtigte Gegnerinnen waren, gelang es den Männern im 18. Jahrhundert mit einem einzigen Zug, gleich die Hälfte der Menschheit schachmatt zu setzen. Sie liessen Frauen einfach nicht mehr mitspielen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts begannen die Schachklubs, auch Frauen aufzunehmen und Frauenschach-Turniere zu organisieren. Auch wenn Frauen heute alle offiziellen Turniere offenstehen: Gemäss dem Schweizer Schachbund sind nur knapp sieben Prozent der registrierten Spielenden weiblich.

Die Anzahl weiblicher Spielender nimmt zu

Doch auch das könnte sich bald ändern. Dank der weiblichen Hauptfigur der Netflix-Serie «Das Damengambit» interessieren sich nun auch mehr Frauen für das «Spiel der Könige». Laut Chess.com registrieren sich gerade deutlich mehr Frauen als üblich – und verbringen mehr Zeit auf ihr als Männer. Eine Veränderung, die auch Hug bemerkt. In einigen der Trainingsgruppen liege der Anteil Mädchen schon bei dreissig Prozent. «Frauen und Mädchen sind nicht schlechter im Schach», sagt er. «Doch es fehlten bisher weibliche Vorbilder.»

Nora (9) ist auf dem besten Weg dazu, ein solches Vorbild zu werden. Im letzten Jahr spielte sie sich bis an die Europameisterschaften in Bratislava in der Slowakei. «Wenn ich mal verliere, kann ich meinem Gegner immer noch ein paar Spielzüge abschauen», sagt sie. Auch sie spielt regelmässig. Doch sie passt auf, dass es nicht zu viel wird, denn: «Zu viel ist ungesund.» Deshalb geht Nora zwischendurch mit ihrem Bruder Jordi (7) für eine Schneeballschlacht nach draussen oder spielt Fussball. An Schach gefällt ihr besonders die schier unendliche Anzahl der Möglichkeiten. «Es gibt mehr mögliche Züge als Sterne im Universum», sagt sie fasziniert.

Der Erfolg beim Schach im Kindesalter steht und fällt jedoch noch mit der Unterstützung der Eltern. «Schach ist ein zeit- und kostenintensives Hobby», sagt ihre Mutter Emma Lara (43). Ein Schachbrett sei schnell einmal gekauft. Doch wenn die Kinder ihren Elo-Wert (Mass der Spielstärke im Schach) erhöhen wollten, sei es wichtig, auch an Turnieren teilzunehmen. «Diese Turniere dauern das ganze Wochenende und sind schweizweit verteilt», sagt Lara. «Für ein Turnier zieht also unsere ganze Familie für ein Wochenende in ein Hotel.» Obwohl Lara selber kein Schach spielt, freut sie sich trotzdem sehr darüber. «Die Schach-Gemeinschaft ist wie eine kleine Familie», erzählt sie. «Man verbringt viel Zeit miteinander, isst bei den Turnieren zusammen zu Abend und kennt sich gut.»

Ab diesem Mittwochabend wird das Training wegen der verschärften Corona-Massnahmen wieder via Zoom stattfinden. Es sei zwar schade, seine Freunde nicht persönlich sehen zu können, sagt Tomek, doch auch das Online-Training gefällt ihm. «Es wäre sehr schade, wenn Tomek plötzlich keine Lust mehr hätte, Schach zu spielen», sagt sein Vater. «Aber schlussendlich würden wir wohl auch das akzeptieren.» Doch daran ist im Moment nicht zu denken.

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