Neuer Wohnort, neuer Trainer, neue Methoden
Olympiaheld Desplanches leidet für den nächsten Coup

Vor einem Jahr holte Jérémy Desplanches Olympia-Bronze. Nach dem historischen Erfolg warf er alles über den Haufen und fing an einem neuen Ort von vorne an. Blick hat ihn im französischen Martigues besucht.
Publiziert: 19.06.2022 um 16:40 Uhr
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Aktualisiert: 11.08.2022 um 10:22 Uhr
Sven Micossé (Text), Benjamin Soland (Fotos)

Die Sonne geht in Martigues gerade auf, doch im kleinen Fitnessraum des Schwimmbads Avatica brennt bereits Licht. Ein Mann mit imposanter Postur, die Haare nach hinten gekämmt, zieht sich an der Klimmzugstange hoch. Immer und immer wieder. Draussen sind nur die Möwen zu hören und das Brummen der herunterfahrenden Abdeckung des Schwimmbeckens. Das dampfende, klare Wasser lädt direkt zum Eintauchen ein.

Jérémy Desplanches' Trainer Philippe Lucas ist immer der erste bei der Anlage. Jeden Tag um 5.15 Uhr arbeitet er an seiner Physis, bevor er an den Schwimmfähigkeiten seiner Schützlingen feilt. Zu diesen gehört seit Herbst 2021 auch der Genfer. Er kommt um 6.40 Uhr mit seinem E-Scooter angesurrt, hinter ihm folgt seine Verlobte Charlotte Bonnet. Sie sind bereit für einen weiteren hammerharten Trainingstag. Auf dem Plan stehen fünf Stunden schwimmen, dazu eine Krafttrainingseinheit.

Der Einstieg in den Tag ist seicht, aber wichtig: dehnen und aufwärmen. Nach und nach trudeln die weiteren Mitglieder der rund 20-köpfigen Trainingsgruppe ein. Die Stimmung ist locker, Lucas zu Scherzen aufgelegt. Obwohl Desplanches nach eigener Aussage «kein Morgenmensch» sei, lässt er sich von der positiven Stimmung anstecken.

Die Tage im Schwimmbad Avatica beginnen früh morgens.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Mammutprogramm im Wasser beginnt

Nach rund 30 Minuten ist Schluss. Umziehen und ab ins Wasser. Beim französischen Erfolgscoach heisst es: schwimmen, schwimmen und nochmals schwimmen. Zu Beginn: 800 Meter Crawl, 400 Meter Rücken, 800 Meter Crawl und Brust. Nebst Lucas behalten zwei Assistenten die Einheit im Auge, geben Anweisungen, rufen die Bahnenzeiten in einer Kadenz aus, es klingt wie bei einer Auktion.

Über eine Stunde wird durchgeschwommen, erst dann gibts eine erste Pause. Am Ende des Tages kommen die Athletinnen und Athleten auf mindestens 13 Schwimm-Kilometer. Wahnsinn!

Der Erfolg gibt den Methoden von Lucas recht. Seit den 80er-Jahren ist der 58-Jährige als Trainer tätig. Unter seinen Fittichen holte Laure Manaudou 2004 in Athen einen kompletten Medaillensatz. Nicht nur Manaudou wurde dadurch in Frankreich zum Star, sondern auch ihr Coach. Seine Erscheinung und Sprüche bleiben vielen in Erinnerung. «Er ist ein Unikat», sagt Desplanches über ihn.

Ex-Coach fehlt beim grössten Erfolg

Doch wie kam es zum Wechsel zum Mann mit den vielen Silber-Armketten? Rückblende: Juli 2021 in Tokio. Dank einer wahnsinnigen Aufholjagd gewinnt Desplanches Olympia-Bronze über 200 Meter Lagen, beendet so die 37-jährige Schweizer Medaillen-Durststrecke. Nicht dabei ist sein damaliger Coach Fabrice Pellerin. Darüber enttäuscht, entscheidet sich der Schwimm-Star für einen Tapetenwechsel. «Philippe hat mich schon immer gereizt, also dachte ich, ich schaue es mir mal an», sagte er im Herbst zu Blick.

Mit Bonnet geht es von Nizza nach Martigues bei Marseille. Neuer Trainer, neue Gruppe, neue Methoden. Beim Palmarès vom Europameister von 2018 sollte Desplanches auch dort die grosse Nummer sein. Mitnichten. Es ist ein neuerlicher Sprung ins eiskalte Nass. «An die Intensität vom neuen Training fange ich erst jetzt langsam an, mich zu gewöhnen. Nein, daran gewöhnt habe ich mich nicht – ich überlebe es.»

Lucas ist zufrieden mit «Jéjé», wie er ihn liebevoll nennt. «Diese Einheit ist etwas hart für ihn, weil er sich diese Arbeit nicht gewöhnt ist. Doch er hängt sich rein und hat ein klares Ziel. Er ist ein sehr professioneller Junge.»

«Schwierigkeit, um drei Levels erhöht»

Quantität statt Qualität steht an der Tagesordnung. Alles mit dem grossen Ziel, bei den Olympischen Spielen 2024 in Paris mindestens eine Sekunde schneller zu sein. Zwar holte er sich auf den letzten 50 Metern in Tokio die Bronze-Medaille, verlor gleichzeitig aber eben jene Sekunde auf die Top zwei. «Ich will besser werden und habe darum die Schwierigkeit, um drei Levels erhöht.»

Nach zweieinhalb Stunden ist die Wassereinheit vorbei. Die erste wohlbemerkt. In der Zwischenzeit brennt die Sonne voll auf die Avatica-Anlage. Für die Schwimm-Gruppe ist eine vierstündige Pause angesagt. Essen, zweieinhalb Stunden schlafen und wieder Essen – so sieht das Programm von Desplanches aus.

Am Nachmittag dürfen sich auch die Schwimmer im Fitnessraum austoben, bevor erneut im Schwimmbecken Kilometer abgespult werden. Crawl, Rücken, Delfin und Brust – alle Techniken werden geschliffen. Nach fünf Stunden im Wasser ist Desplanches geschlaucht.

Energiespeicher ist leer

Nach einem solchen Tag bleibt nicht viel Energie für anderes übrig. Meist gehe er bereits um 21.30 Uhr schlafen. Viel unternehmen lässt sich in Martigues ohnehin nicht. «Hier gibt es weniger Ablenkung als in Nizza. Fürs Schwimmen ist es optimal», sagt Verlobte Charlotte. «Danach würde ich aber nicht hierbleiben wollen.»

Desplanches haut in die gleiche Kerbe. Die Kleinstadt wird wegen den vielen Kanälen «Venedig der Provence» genannt. «Es ist eine schöne Stadt. Doch ich komme aus Genf, habe vorher in Nizza trainiert. Das sind zwei internationale Grossstädte.»

Das Schwimm-Paar will sportlich das Maximum aus der Zeit in der Hafenstadt herausholen. Privat beschäftigt sie seit einigen Monaten aber die Hochzeitplanung. Während den Ferien im vergangenen Jahr hat Desplanches die Frage aller Fragen gestellt, im Sommer 2023 soll das grosse Fest folgen. «Es ist nicht wenig Arbeit», sagt er. «Das Problem mit dem Ort ist, dass ich Freunde in der Schweiz und Frankreich habe, sie hat Freunde überall in Frankreich.»

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Mit der Verlobten im selben Team

Während ihrer Zeit in Nizza haben sich Desplanches und Bonnet kennen und lieben gelernt. Mit der Partnerin trainieren und Wettkämpfe bestreiten – eine spezielle Situation. Für den Westschweizer ist es ideal. «Wir trainieren zusammen, aber wenn wir an Wettkämpfen sind, trete ich für die Schweiz an und sie für Frankreich. So sehen wir uns immer wieder, ermutigen uns. In der restlichen Zeit ist jeder auf seiner Seite.»

Die aktuelle Situation stimmt für beide. Etwas nagt aber an Desplanches: Er hat Heimweh – auch nach über sieben Jahren in Frankreich. «Die Schweiz fehlt mir so sehr. Die Leute, die Sauberkeit, die Berge, die Seen, die Schokolade, das Fondue – oh là là.»

Aktuell hat er aber nur die WM in Budapest im Kopf. Auch wenn er mitten in einer Übergangssaison steckt, peilt er über 200 Meter Lagen den Final am Mittwoch an. Dort ist dann alles möglich. Beim Auftakt in der ungarischen Hauptstadt kommt er am Samstag noch nicht auf Touren.

Über 100 Meter Brust bleibt er mit 1:01,24 fast eine Sekunde über seinem Schweizer Rekord von Tokio. Das Aus in den Vorläufen. Auch wenn die weiteren Ergebnisse noch nicht stimmen sollten, wäre dies kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Olympia in Paris 2024 ist der Ort, wo der Sekundenplan soll.

Schwimm-WM

Seit Freitag und bis am 3. Juli finden in Budapest die Schwimm-Weltmeisterschaften statt. Das Schweizer Team wird von den Olympia-Medaillengewinner Noè Ponti und Jérémy Desplanches angeführt. Die fünf weiteren Schweizer WM-Teilnehmer sind Antonio Djakovic, Roman Mityukov, Lisa Mamié, Maria Ugolkova und Sasha Touretski. Desplanches schied über 100 Meter Brust im Vorlauf aus. Jetzt peilt er über die 200 Meter Lagen einen Platz im Finale vom Dienstag an.

Seit Freitag und bis am 3. Juli finden in Budapest die Schwimm-Weltmeisterschaften statt. Das Schweizer Team wird von den Olympia-Medaillengewinner Noè Ponti und Jérémy Desplanches angeführt. Die fünf weiteren Schweizer WM-Teilnehmer sind Antonio Djakovic, Roman Mityukov, Lisa Mamié, Maria Ugolkova und Sasha Touretski. Desplanches schied über 100 Meter Brust im Vorlauf aus. Jetzt peilt er über die 200 Meter Lagen einen Platz im Finale vom Dienstag an.

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