Nachdem seine Eltern erschossen worden waren, flüchtete Mustafe in die Schweiz
Die dramatische Geschichte von Schwinger Schwanders Lehrling

Severin Schwander gehört zu den Aufsteigern der jüngsten Schwing-Saison. Im Geschäft von Schwanders Eltern arbeitet jedoch ein Lehrling, der mit seiner Lebensgeschichte die sportlichen Grosstaten von Severin deutlich übertrifft.
Publiziert: 04.10.2021 um 00:35 Uhr
|
Aktualisiert: 04.10.2021 um 06:08 Uhr
Marcel W. Perren (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Kilchberg vor einer Woche. Die Sensation ist greifbar. Severin Schwander gewinnt beim wichtigsten Schwingfest des Jahres seine ersten Zweikämpfe mit der Maximalnote 10.

Auch mit Überschwinger Samuel Giger hält der 2-Meter-Mann aus dem Berner Mittelland zu Beginn des dritten Gangs gut mit. Drei Minuten vor dem Ende dieses Zweikampfs wird der Thurgauer seiner Favoritenrolle dann doch gerecht. Schwander verliert den Gang und damit auch seine Ranglistenführung. In der Schlussrangliste fungiert er am Abend an sechster Stelle.

Allzu lange trauert der 25-Jährige dem verpassten Super-Coup nicht nach. In seinem Hauptberuf als Metzger arbeitet Severin im elterlichen Betrieb in Riggisberg mit einem Jüngling zusammen, der ihm mit dramatischen Erzählungen aus der Kindheit immer wieder vor Augen führt, dass ein verlorener Zweikampf im Sägemehl einer Bagatelle gleichkommt.

Severin Schwander hat in der abgelaufenen Schwing-Saison ordentlich Staub aufgewirbelt.
Foto: Sven Thomann
1/10

Schwanders Zweitlehrjahr-Stift, dessen Biografie von Schüssen, Hunger und Tränen geprägt ist, heisst Mustafe Mahamud. In Äthiopien geboren, wird der Bub mit somalischen Wurzeln kurz nach seinem achten Geburtstag mit einer grausamen Nachricht konfrontiert – seine Eltern sind aus politischen Gründen erschossen worden. Mustafe steht in seiner Heimat vor dem Nichts. Als er drei Jahre später hört, dass in seiner Umgebung mehrere Menschen die Flucht nach Europa planen, erkennt er die Chance seines Lebens.

In der Sahara im Kugelhagel

«Im Normalfall muss man für eine solche Flucht den Schleppern zwischen 5000 und 7000 Franken zahlen. Ich hatte überhaupt kein Geld. In der Hoffnung, dass ich als Kleinster einen Bonus habe, schloss ich mich dennoch dieser Fluchtgruppe an.» Schon bald bereut Mustafe diese Entscheidung. «Während einem Monat hatte ich ständig das Gefühl, dass ich diese Flucht nicht überlebe. Ich dachte mehrmals an einen Rückzug, musste aber einsehen, dass es dafür schon zu spät war.»

Im Grenzgebiet Äthiopien-Sudan bangt der kleine, unterernährte Flüchtling erstmals um sein Leben. «Da wurde auf uns geschossen. Später sind wir auch in der Sahara in einen Kugelhagel geraten. Einige in unserer Gruppe sind dabei gestorben.»

Es sind aber nicht allein diese Schüsse, die Mustafe lange traumatisieren. «Ich habe während Monaten mit rund 100 Personen in einem Raum geschlafen, der so eng war, dass ich mich nicht auf die andere Seite drehen konnte. Etwas zu essen gab es nur einmal am Tag. Meistens Spaghetti mit irgendeiner Sauce. Aber wenn ich mit Schöpfen dran war, war der Topf meistens leer.»

Doch Mustafe hält durch. Nach rund neun Monaten erreicht er über den Wasserweg Italien. Letztendlich landet er bei einer Pflegefamilie in Mühlethurnen im Kanton Bern. «Ich hatte das grosse Glück, dass mich meine Pflegeeltern behandelt haben wie einen eigenen Sohn!»

Metzgerlehre nach dem Out beim FC Thun

Mustafe integriert sich schnell. Er lernt in kürzester Zeit Berndeutsch und glänzt als Fussballer in der Nachwuchsauswahl des FC Thun. «Als Flügelstürmer konnte ich vor allem mit meiner Schnelligkeit überzeugen.»

Mit 13 Jahren taucht der schmächtige, aber heroische Kämpfer erstmals in der Metzgerei Schwander auf. «Ab diesem Zeitpunkt kam Mustafe einmal pro Woche zu uns. Er hat sich mit dem Vakuumieren unserer Fleisch- und Wurstwaren ein Sackgeld verdient. Wir haben ihn schnell in unser Herz geschlossen», erinnert sich Severin.

Auch der «Giel» aus Afrika fühlt sich in der Metzger- und Schwingerfamilie auf Anhieb wie zu Hause. Als er vom FC Thun die Nachricht erhält, dass sein Talent doch nicht für eine Karriere als Fussballprofi reicht, entscheidet er sich für eine Ausbildung zum Fleischfachmann. Selbstverständlich in der Metzgerei Schwander.

Severin ist hier als Ausbildungschef tätig. Und der Kranzschwinger stellt dem mittlerweile 18-Jährigen ein herausragendes Zwischenzeugnis aus. «Ich hatte noch nie einen Stift, der zu Beginn seines zweiten Lehrjahres im Ausbeinen so schnell und so präzise zu Werke geht wie Mustafe.»

Dieser Schwinget war an Verrücktheit kaum zu überbieten
1:14
Drei Sieger am Kilchberger:Dieser Schwinget war an Verrücktheit kaum zu überbieten

«Severin ist für mich wie ein grosser Bruder»

Schwanders aussergewöhnlicher Lehrling strahlt in diesem Moment die pure Zufriedenheit aus. «Severin ist wie ein grosser Bruder für mich, ich kann mir keinen besseren Ausbildner als ihn vorstellen. Vielleicht werde ich dank seinen Ratschlägen eines Tages als erster Schwarzer die Goldmedaille bei den Schweizer Meisterschaften für Fleischfachleute gewinnen.»

Severin hat als Metzger 2017 sogar an den Europameisterschaften die Goldmedaille gewonnen. Der grosse Durchbruch als Schwinger ist dem Mann, der lange von gravierenden Knieproblemen geplagt wurde, in diesem Jahr geglückt. Am Berner Mittelländischen wird er Zweiter, das Emmentalische beendet er auf dem dritten Rang.
Und beim Berner Kantonalen bodigt der Grosssohn des ehemaligen Eidgenossen und ESV-Obmanns Fritz Schwander den amtierenden König Christian Stucki.

Wenn Severin Schwander beobachtet, wie stark sich Mustafe Mahamud durchs Leben metzget, wirkt er genauso glücklich wie nach einem königlichen Wurf im Sägemehl.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?