Ein Jahr nach dem peinlichsten Moment in seiner Karriere
Tanguy Nef ist reif für den grossen Coup

Tanguy Nef ist schon öfters mit grandiosen Zwischenzeiten ausgeschieden. Um die nötige Stabilität zu erlangen, hat der Romand einen Weg eingeschlagen, der für einen jungen Rennfahrer eher ungewöhnlich ist.
Publiziert: 10.12.2022 um 20:31 Uhr
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Aktualisiert: 11.12.2022 um 13:13 Uhr

Es ist der peinlichste Moment in der Karriere von Tanguy Nef. Der Sohn eines Universitätsprofessors aus Genf fährt beim Slalom in Val-d’Isère im ersten Lauf mit der Startnummer 18 auf den formidablen vierten Rang. Doch im zweiten Lauf fädelt er beim allerersten Tor ein! Seit diesem Malheur sind zwölf Monate vergangen. Heute kehrt der 26-Jährige auf die «Face de Bellevarde» zurück. Und offensichtlich hat er sich in der Zwischenzeit auch dank seinem älteren Bruder Laszlo weiterentwickelt.

Der spezielle Input des «Big Brothers»

Laszlo Nef gehört als Mitglied des Schweizer Demo-Ski-Teams zu den technisch herausragenden Alpin-Fahrern des Landes. Damit sich auch der oft etwas ungestüme Tanguy skitechnisch stabilisieren kann, hat ihm sein «Big Brother» eine Ausbildung nahegelegt, welche die meisten Rennfahrer meistens erst nach ihrer Karriere absolvieren: «Laszlo hat Druck auf mich ausgeübt, damit ich den Skilehrer-Kurs mache. Obwohl ich mir am Anfang nicht vorstellen konnte, dass mich das weiterbringt, habe ich seinen Ratschlag unmittelbar nach der letzten Weltcup-Saison befolgt. Jetzt kann ich bestätigen, dass mir diese Skilehrer-Ausbildung tatsächlich sehr gutgetan hat.»

Aber warum? «Die Kommunikation mit den Trainern fällt mir jetzt viel einfacher. Vorher konnte ich die Coaches oft nicht so recht verstehen, wenn ihr Vokabular aus lauter technischen Begriffen bestand. Aber seit dem Skilehrer-Kurs weiss ich ganz genau, was sie mir sagen wollen.»

Vor zwölf Monaten ist Tanguy Nef in Val-d’Isère nach einem tollen ersten Lauf im zweiten Durchgang ausgeschieden.
Foto: AFP
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Servicemann Alex Martin untermauert die Aussage seines Schützlings: «Tanguy hat seine Technik stabilisiert. Und weil er die zweite Saison auf Head-Ski fährt, kennt er sich nun auch mit dem Material besser aus. Ob es bereits in Val-d’Isère für einen Platz auf dem Podest reicht, kann ich zwar nicht versprechen. Aber ich bin mir sicher, dass er im Verlauf dieses Winters in die Top 3 fahren wird!»

Die Schweizer Antwort auf Bode Miller

Bevor Martin vor dem letzten Winter den Job an Nefs Seite übernommen hatte, feierte der gebürtige Vorarlberger gigantische Erfolge mit Ted Ligety (38, fünffacher Weltmeister, zweifacher Olympiasieger). Der Genfer erinnert den Wachskünstler auch jetzt immer wieder an seine Zeiten im US-Team. «Tanguy ist neben der Piste ähnlich locker drauf, wie es Bode Miller war.»

Dass Nef ein ähnliches «Rock 'n' Roller»-Potenzial wie der legendäre Miller (45, Gesamtweltcupsieger 2004/05) besitzt, hat auch Deutschlands einstiger Slalom-König Felix Neureuther (38) erkannt. «Als ich mich im ersten Jahr nach meinem Rücktritt am Abend vor dem Weltcup-Riesenslalom in Adelboden mit meinen neuen TV-Kollegen ins Nachtleben gestürzt habe, ist mir zu später Stunde Tanguy Nef begegnet. Als ich ihn gefragt habe, ob er denn hier kein Rennen bestreiten würde, antwortete er: ‹Doch. Aber bis zum Slalom-Start am Sonntag habe ich ja noch genügend Zeit zum Schlafen.› Das fand ich echt cool.»

Geld verdienen für den behinderten Bruder

Dass Nef seinen Rennfahrer-Alltag ähnlich cool wie einst Miller bewältigt, kommt nicht von ungefähr. Schliesslich hat er in Bodes US-Heimatstaat New Hampshire am renommierten Dartmouth-College Informatik und Wirtschaft studiert. Seit dem erfolgreichen Bachelorabschluss 2021 ist Tanguy nun aber ultimativ in der Schweiz sesshaft geworden – im Val des Bagnes hat er sich unweit von Verbier zusammen mit Bruder Laszlo eine Wohnung gekauft.

Ein Zimmer ist in diesem schmucken Appartement für den jüngsten Bruder Arsène reserviert, der hauptsächlich bei den Eltern in Genf wohnt. Arsène Nef leidet unter dem Sotos-Syndrom. Dabei handelt es sich um eine genetische Mutation, die bei der Geburt auftritt und die geistige Entwicklung beeinträchtigt. Arsènes Schicksal treibt Tanguy zusätzlich an. «Ich will auch deshalb viel Geld verdienen, damit ich meinem Bruder für immer ein gutes Leben ermöglichen kann.» Vielleicht gibts den ersten richtigen Zahltag schon heute in Val-d’Isère.

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