«Im Nachhinein hat er mich eher gebremst»
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Müller über Trainer Frehsner:«Im Nachhinein hat er mich eher gebremst»

Ski-Legende Peter Müller offen wie nie
«Meine Eltern wählten den Freitod, das war krass»

Wir waren Helden! Peter Müller (63) über ein Seilbahnunglück und den Freitod seiner Eltern, über sein Image, seine Erfolge und warum Schläge früher normal waren.
Publiziert: 07.03.2021 um 00:52 Uhr
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Aktualisiert: 20.01.2022 um 10:20 Uhr
Daniel Leu (Interview) und Benjamin Soland (Foto)

Herr Müller, «Ich bin sensibel, ein Braver. Fast zu brav für den Spitzensport» – wer hat das vor über 30 Jahren gesagt?
Peter Müller: Das könnte ich gewesen sein, oder?

Richtig! Gegen aussen präsentierten Sie sich aber immer als harter Typ. Warum?
Wer mich wirklich kennt, der sieht hinter meine Fassade. Die restlichen 99 Prozent nicht. Als ich in jungen Jahren in den Ski-Zirkus kam, war es wie bei einem Kind, das in den See geworfen wird. Entweder es lernt sofort zu schwimmen, oder es geht unter. Ich wollte auf keinen Fall untergehen. Deshalb baute ich ein Schutzschild auf, um mich gegen die älteren Fahrer zu wehren, die mich dauernd runtergemacht hatten. Dadurch kam ich in der Öffentlichkeit hart, unnahbar und arrogant rüber.

Wie sensibel Sie wirklich sind, konnte man 1988 in Val d’Isère erahnen. Damals rammte am Morgen vor dem Rennen ein Pistenfahrzeug einen Seilbahnmast, woraufhin eine Gondel abstürzte. Es gab einen Toten und mehrere Schwerverletzte. Wie nahe ging Ihnen dieses Unglück?
Sehr nahe. Weil ich noch etwas im Keller des Hotels holen musste, ging ich ein paar Minuten später zur Bahn. Das war mein Glück, sonst hätte es vielleicht mich erwischt. Als ich in der Gondel sass, gab es plötzlich einen gewaltigen Ruck, und die Bahn blieb stehen. Etwa eine halbe Stunde später wurden wir mit einer Leiter befreit. Ich sah dann, wie sie den Toten im Sarg abtransportierten. Für mich war da klar: Das Rennen wird abgesagt.

«Ich bin eigentlich ein Braver. Ich bin kein Böser», sagt Peter Müller im Interview.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Doch das Rennen fand trotzdem statt. Während Pirmin Zurbriggen scheinbar unbeeindruckt zum Sieg fuhr, wurden Sie bloss 15.
Am Start versuchte ich, mich zu konzentrieren. Vergeblich. Ich dachte: Jetzt stirbt da einer, du bist selber haarscharf am Tod vorbeigeschrammt, und jetzt soll es normal weitergehen. Das konnte ich nicht.

Wer mit Ihren Teamkollegen von damals spricht, der kriegt vor allem etwas zu hören: Der Müller sei ein Weltmeister der Ausreden gewesen. Jedes Rennen, das er nicht gewonnen habe, sei irregulär gewesen.
So ein Quatsch. Nennen Sie mir ein Beispiel!

Beispiel 1: Gröden 1982. Eine Ölspur soll Sie dort ausgebremst haben …
Das stimmt aber! Fragen Sie Karl Frehsner, wenn Sie mir nicht glauben. Ich fuhr im Training zweimal Bestzeit. Mein grosser Widersacher war der Einheimische Much Mair. Ich hatte fürs Rennen die Startnummer 1, er die 14. In der Nacht hatte es Neuschnee gegeben. Deshalb fuhr kurz vor dem Start noch ein alter Ratrac über die Strecke. Bei dem spritzte richtiggehend das Öl hinten raus. Als ich dann im Starthäuschen stand und den Vorfahrern zuschaute, fuhren die alle fünf Meter neben der Ideallinie. Das machte mich schon ein bisschen stutzig. Dann war ich dran mit der 1. Ich fuhr voll in der Hocke aufs erste Tor zu. Dort hat es mich wegen des Öls beinahe aus den Schuhen gehauen. Den Rest der Strecke musste ich dann quasi auf einem Ski zu Ende fahren. Im Ziel hatte ich fast drei Sekunden Rückstand.

Beispiel 2: Olympia 1988. Auch das soll Ihrer Meinung nach irregulär gewesen sein.
Auch hier hatte es über Nacht geschneit. Ich war unter den ersten zehn in der Rangliste der einzige Fahrer mit einer tiefen Startnummer. Ich war mit der Nummer 1 quasi der Pfadschlitten. Alleine im Flachstück nahm mir Pirmin über eine halbe Sekunde ab. Ganz ehrlich: Calgary 1988 war eines meiner besten Rennen überhaupt. Ich habe mir das Rennen übrigens erst vor einem halben Jahr das erste Mal angeschaut. Es war perfekt. Mit einer höheren Startnummer hätte ich nicht Silber, sondern Gold geholt.

Waren Sie demnach kein Jammeri, sondern ein Pechvogel?
Beides nicht, ich spreche einfach Klartext. Wer mich als Meister der Ausreden hinstellt, hat keine Ahnung. Kann man als Pechvogel 19 Weltcup-Abfahrten gewinnen? Können Sie mir einen Schweizer nennen, der mehr Abfahrten gewonnen hat als ich?

Nein!
Sie sehen hier hinter mir fünf WM- und Olympiamedaillen hängen. Können Sie mir einen Skirennfahrer nennen, der an Grossanlässen fünfmal hintereinander eine Abfahrtsmedaille gewonnen hat?

Nein!
Können Sie mir einen Skirennfahrer nennen, der im Abfahrtsweltcup siebenmal unter die ersten drei fuhr?

Nein! Ich fass mal kurz zusammen: Sie sind kein Jammeri, Sie sind der beste Abfahrer aller Zeiten, aber Sie waren trotzdem bei vielen unbeliebt. Wie kommt das?
Ich war immer ehrlich und habe gesagt, was ich gedacht habe. Für die Bergler war ich als Zürcher halt ein rotes Tuch. Die mussten jeweils im Dunkeln heim, weil sie von einem Zürcher geschlagen wurden. Damals waren die Rollen doch klar verteilt: Die Zürcher sollten die Kohle in die Berge bringen, sie sollten doch die Bergler nicht bei den Skirennen bezwingen.

Welchen Anteil hatten Sie an Ihrem schlechten Image?
Mein Vor-, aber auch Nachteil war, dass ich nicht verlieren konnte. Mich hat es schon angeschissen, wenn ich beim Joggen nicht der Erste oben am Berg war. Deshalb habe ich dann zu Hause so viel trainiert, damit ich das nächste Mal als Erster oben bin.

Was löste das bei Ihren Teamkollegen aus?
Deren Ziel war es nicht, das Rennen zu gewinnen, sondern den Müller zu schlagen. Deshalb bin ich auch der Vater des Erfolgs in den 80er-Jahren.

Hatten Sie Freunde im Team?
Nein, meine Freunde waren zu Hause. Ich habe diese Rolle des Aussenseiters natürlich auch für mich genutzt. Wenn alle gegen mich waren, hat mich das gepusht, und dann hatte ich Biss und gab richtig Guzzi.

Mit wem teilten Sie sich das Zimmer?
Oft mit Toni Bürgler, oder auch mit Franz Heinzer, und einmal gar mit Pirmin.

Wie war das?
Das hat der Frehsner wohl extra gemacht, um uns zu kitzeln. Auf sein Nachttischchen legte Pirmin eine Madonna, und um 21 Uhr sagte er, es sei Lichterlöschen. Dafür stand er schon um 6 Uhr auf und tigerte im Zimmer hin und her.

Zurbriggen war Ihr grösster Widersacher. Was haben Sie an ihm bewundert?
Dank seines Glaubens konnte er unglaubliche Risiken eingehen. Das hat man schon damals in Val d’Isère gesehen, als er trotz des tödlichen Unfalls das Rennen gewann. Oder auch in Beaver Creek an der WM 1989. Damals hatte es im Abfahrtstraining unglaubliche Windböen. Trotzdem gab er Vollgas, den Kopf unter den Knien. Da ist er richtig übel abgeflogen und hat sich mehrfach überschlagen.

1987 waren Sie endlich am Ziel Ihrer Träume: WM-Gold in der Abfahrt, vor Zurbriggen. Hat Sie dieser Titel reich gemacht?
Damals war ein Abfahrts-WM-Titel mit all den Sponsoren und Prämien etwa eine Million Franken wert. Heute ist es sogar noch ein bisschen mehr.

War Geld für Sie ein Antrieb?
Nein, nie. Ich wollte als Jugendlicher einfach Ski fahren.

Wie fanden das Ihre Eltern?
Als ich aufs Skigymnasium wollte, hiess es: Das kommt nicht in Frage. Deshalb lernte ich zuerst Gärtner. Irgendwann sagte ich ihnen, dass ich mich auf eine Rennfahrerkarriere konzentrieren werde. Da hatten sie keine Freude. Erst als ein Salomon-Mensch zu uns nach Hause kam und 10’000 Franken bar auf den Tisch legte, damit ich mit ihren Bindungen fahre, merkten sie, dass ich es zu etwas bringen könnte. Anschliessend waren meine Eltern meine grössten Fans. Sie archivierten jedes Skirennen, und meine Mutter erstellte grosse Alben mit allen Zeitungs- und Illustrierten-Ausschnitten über meine erfolgreiche Karriere.

In einem Interview haben Sie erzählt, dass es zu Hause auch mal Schläge gab.
Das war halt die alte Schule. Meine Eltern erlebten den Zweiten Weltkrieg hautnah mit, da beide nahe der Grenze zu Deutschland aufwuchsen. Wenn nachts die Flieger kamen, mussten sie die Zimmer verdunkeln und in den Keller gehen. Das hat sie sicherlich sehr geprägt. Und ja, wenn ich nicht parierte, wurde ich von meinem Vater mit einem Gartenschlauch geschlagen.

Sie erzählen das jetzt sehr emotionslos und abgebrüht.
Das war eine andere Zeit. Ein anderes Beispiel: In der Sek hatten wir einen Lehrer. Wenn du nicht brav warst, musstest du die Hand hinhalten, und dann schlug er mit dem Lineal dreimal zu. So war das. Wer da reklamierte, galt als Memme.

Vor knapp sechs Jahren sind Ihre Eltern gestorben. Wie blicken Sie heute auf die damalige Zeit zurück?
Es war sehr hart. Mein Vater hatte Krebs. An Weihnachten erzählte er mir, dass er am 5. Mai mit Exit gehen werde. Seine Begründung: Er könne nicht mehr fischen, nicht mehr Velo fahren, keine Skitouren mehr machen, und all seine Freunde würden nach und nach wegsterben.

Wie alt war Ihr Vater da?
87-jährig. Ein paar Wochen später kam dann meine kerngesunde Mutter und sagte, sie wolle auch nicht mehr leben. Sie wolle mit ihrem Mann gehen, denn nach 65 Jahren Liebe könne sie sich ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.

Versuchten Sie, Ihre Mutter umzustimmen?
Das war nicht mehr möglich, die waren so im Tunnel, und es war ihr ausdrücklicher Wunsch. Ich habe dann versucht, mit meinen Töchtern sie noch regelmässig zu sehen. Das alles hat mich sehr beschäftigt. Ich konnte nicht mehr schlafen, das war krass. (Müller kommen die Tränen.) Das reicht jetzt, Themenwechsel!

Eine schwierige Zeit durchlebten Sie auch 1993, als Ihre erste Tochter Géraldine zur Welt kam.
Damals ging es um Leben und Tod. Sie hatte einen Darmverschluss. Deshalb kam dauernd die ganze Milch oben wieder raus. Sie kam dann nach zwei Tagen glücklicherweise notfallmässig ins Kinderspital Luzern, wo ihr in einer sechsstündigen Notoperation das Stückchen Darm rausgeschnitten wurde. Das hat ihr das Leben gerettet.

2000 ging Ihre Ehe in die Brüche. Wie sehr hat Sie das getroffen?
Das war die grösste Niederlage meines Lebens, auch wenn man ja schon vorher weiss, dass statistisch betrachtet jede zweite Ehe nicht halten wird. Mein wichtigster Tipp für alle, die heiraten wollen: Macht vorher einen Ehevertrag.

Sie sind mittlerweile 63 Jahre alt. Welche Träume haben Sie noch?
Eine gute Frage. Ich möchte noch möglichst viel Zeit mit meinen Freunden verbringen, noch ein bisschen Sport treiben und das Leben geniessen. Apropos Träume, da fällt mir noch etwas ein ...

Erzählen Sie!
In meinen Träumen stehe ich bestimmt ein-, zweimal pro Jahr noch am Start eines Skirennens. Einmal fuhr ich eine Olympia-Abfahrt im Zoo Zürich. In diesem Traum verschlief ich, musste mit dem Tram zum Start hochfahren, und dort kamen schon der Physio und Frehsner angerannt und sagten, ich müsse jetzt gleich losfahren.

Letzte Frage: Bei wem müssten Sie sich noch entschuldigen?
Bei denen, die ich früher falsch behandelt habe, habe ich mich schon längst entschuldigt. Ich habe sicher viel Seich gemacht im Leben und war kein Einfacher. Aber wie Sie zu Beginn des Gesprächs erwähnt haben, bin ich eigentlich ein Braver. Ich bin kein Böser.

Peter Müller (63)

Der Zürcher ist der erfolgreichste Schweizer Abfahrer aller Zeiten. Er gewann 24 Weltcuprennen (davon 19 Abfahrten), dreimal die Abfahrts-Weltcupwertung und fünf WM- und Olympiamedaillen. Das Highlight: sein WM-Sieg 1987 in der Abfahrt von Crans-Montana VS. 1992 trat er zurück. Seit vergangenem Jahr führt der zweifache Familienvater das Sportgeschäft Mythen Sport in Einsiedeln SZ.

Der Zürcher ist der erfolgreichste Schweizer Abfahrer aller Zeiten. Er gewann 24 Weltcuprennen (davon 19 Abfahrten), dreimal die Abfahrts-Weltcupwertung und fünf WM- und Olympiamedaillen. Das Highlight: sein WM-Sieg 1987 in der Abfahrt von Crans-Montana VS. 1992 trat er zurück. Seit vergangenem Jahr führt der zweifache Familienvater das Sportgeschäft Mythen Sport in Einsiedeln SZ.

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