Ski-Legende Vreni Schneider
«Meine Mutter lag im Sarg in unserer Stube»

Als Jugendliche verlor sie ihre Mutter, als Skirennfahrerin eine ihrer besten Kolleginnen. Ein Gespräch mit Vreni Schneider (59) über Leben und Tod, Glücksgefühle und harrsche Kritik.
Publiziert: 18.01.2024 um 19:23 Uhr
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Aktualisiert: 19.01.2024 um 13:36 Uhr
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Daniel LeuStv. Sportchef

Blick: Frau Schneider, ist es ein Wunder, dass wir heute hier zusammensitzen können?
Vreni Schneider: Warum meinen Sie?

Ihre Eltern hatten die Familienplanung bereits abgeschlossen. Doch dann kamen Sie noch zur Welt.
Das stimmt. Das Familienfoto mit meinen drei älteren Geschwistern war schon gemacht und aufgehängt worden.

Waren Sie ein typisches Nesthäkchen?
Ich wurde von meinen Eltern und auch von meinen Geschwistern schon ein bisschen «verhätschelet» (lacht).

Im Gespräch mit Blick schaut Vreni Schneider auf ihr bewegtes Leben zurück.
Foto: BENJAMIN SOLAND
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Standen Sie schon früh auf den Ski?
Ja, als ich mich aber das erste Mal auf den Ski versuchte, fiel ich immer um und fing sofort an zu schreien und zu weinen. Deshalb sagte mein Vater damals: «Ach, aus ihr wird nie eine gute Skifahrerin.»

Ihre ersten «Skilehrer» sollen Ihre Brüder gewesen sein.
Heiri ist fünf Jahre älter als ich und Jakob, den wir hier alle «Schag» nennen, neun. Wir hatten damals nachmittags immer frei und gingen Skifahren. Ich habe ihnen nachgeeifert und bin überall runtergeblocht. Sobald sie aber ins Restaurant etwas trinken gingen, fuhr ich heim.

Warum?
Ich, die kleine Schwester, wollte ihnen nicht auf die Nerven gehen und nicht riskieren, dass ich am nächsten Tag nicht wieder mit ihnen Ski fahren durfte.

Wie talentiert ist Sohn Florian?
2:49
Vreni Schneider im Interview:Wie talentiert ist Sohn Florian?

Wer waren die Helden Ihrer Kindheit?
Als Schulmeitli hing ein Ski-Poster über meinem Bett. Das war mein ganzer Stolz. Darauf Lise-Marie Morerod, Maite Nadig, Bernadette Zurbriggen, Doris De Agostini, Erika Hess, Ernst Good, Bernhard Russi, Heini Hemmi und wie sie alle hiessen. Die A-Kader-Fahrer trugen rote Kleidung, die B- und C-Kader-Fahrer blaue. Ich dachte immer: Auf so einem Poster will ich auch mal sein. Es muss gar nicht in Rot sein, es reicht mir schon, wenn ich irgendwo in Blau am Rand stehen darf.

Vreni Schneider

55 Weltcupsiege, 6 WM-Medaillen (davon 3 goldene), 5 Olympia-Medaillen (davon 3 goldene) und 14 Kristallkugeln (davon 3 grosse): Vreni Schneider gehört zu den erfolgreichsten (Riesen-)Slalomfahrerinnen der Ski-Geschichte.

Heute führt die Glarnerin zusammen mit ihrem Mann Marcel Fässler in Elm eine Ski-, Snowboard- und Rennschule. Das Paar hat zwei Söhne: Florian (geboren 2004) und Flavio (2006).

55 Weltcupsiege, 6 WM-Medaillen (davon 3 goldene), 5 Olympia-Medaillen (davon 3 goldene) und 14 Kristallkugeln (davon 3 grosse): Vreni Schneider gehört zu den erfolgreichsten (Riesen-)Slalomfahrerinnen der Ski-Geschichte.

Heute führt die Glarnerin zusammen mit ihrem Mann Marcel Fässler in Elm eine Ski-, Snowboard- und Rennschule. Das Paar hat zwei Söhne: Florian (geboren 2004) und Flavio (2006).

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Doch bald einmal trat dieser Wunsch in den Hintergrund. Als Sie 16 waren, starb Ihre geliebte Mutter Sibilla an Krebs.
Ich wollte lange nicht wahrhaben, wie schlecht es ihr ging. Als sie irgendwann regelmässig zur Chemo gehen musste, fielen ihr die Haare aus, und sie legte sich deshalb eine Perücke zu. Ich konnte das alles nicht verstehen. Nach der Chemo ging es ihr immer schlechter als vorher. Deshalb dachte ich naiv: Warum muss sie das machen, wenn es ihr danach immer schlechter geht? Trotzdem ging ich, wenn immer möglich, mit ihr zur Chemo im Spital Glarus mit. Ich wollte sie begleiten und für sie da sein. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir eine Episode.

Welche?
Wir fuhren zwei FIS-Slaloms in Italien. Weil wir Schweizerinnen dort alle ausfielen, sagte unser Trainer: «Lasst uns noch kurz ans Meer fahren.» Für mich war dies das erste Mal. Deshalb wollte ich nach der Rückkehr meiner Mutter alles erzählen. Sie lag da schon nur noch im Bett und meinte bloss: «Meitli, erzähl es mir ein anderes Mal, ich habe nicht die Kraft, dir zuzuhören.» Da wurde mir erstmals so richtig bewusst, dass sie wirklich krank ist. Als meine Mutter dann ins Spital musste, sagte mir eines Tages beim Abwaschen mein Vater: «Wenn kein Wunder mehr passiert, kommt sie nicht mehr nach Hause.»

Können Sie sich noch an den Todestag erinnern?
Als ob es gestern gewesen wäre. Ich fuhr in Elm ein Regional-Rennen, das ich gewann. An der Siegerehrung wurde Schwyzerörgeli gespielt, was ich normalerweise sehr mag. Doch an jenem Tag habe ich das nicht ertragen. Ich wollte nur noch nach Hause. Als ich dort ankam, klingelte genau in diesem Moment das Telefon. Meine Schwester nahm ab, und ich habe sofort gespürt, dass unsere Mutter gestorben ist.

Haben Sie Ihre Mutter danach noch einmal gesehen?
Früher war es üblich, dass man die Toten zu sich nach Hause mitnahm. Meine Mutter lag deshalb im Sarg in unserer Stube, und alle kamen vorbei, um zu kondolieren. Das waren schon traumatische Bilder.

Dachten Sie damals: Jetzt höre ich mit dem Skifahren auf?
Nein, denn kurz vor ihrem Tod sagte mir meine Mutter: «Meitli, du hast das Skifahren so in dir drin. Wenn du das wirklich willst, dann mach weiter. Egal, was passiert.» Auf ihrem Grabstein steht deshalb auch: «Ich lebe. Und ihr sollt auch leben.» Rückblickend realisierte ich aber noch etwas ganz anderes.

Was?
Vor ihrem Tod erklärte sie mir bis ins Detail, wie man waschen und kochen muss. Ich habe das damals erst nach ihrem Tod verstanden. Sie wollte mich auf meine neue Rolle vorbereiten, denn meine älteren Geschwister waren schon in der Lehre, und deshalb musste ich nach ihrem Tod den Haushalt machen.

In jener Zeit geriet auch Ihre Karriere als Skirennfahrerin ins Stocken. Dachten Sie da ans Aufhören?
Ja, es hat sehr wenig gefehlt und ich hätte aufgehört. Ich gurkte drei Jahre im C-Kader rum und verpasste zweimal hintereinander den Aufstieg ins B nur haarscharf. Beim zweiten Mal sagte ich dem Trainer am Telefon: «Du kannst mich aus dem Kader streichen. Ich höre auf.» Das Lustige daran: Kaum das Telefon aufgehängt, ging ich gleich wieder ins Konditraining und dachte: Jetzt erst recht, denen zeig ichs im nächsten Winter.

Apropos trainieren. Sie waren schon immer sehr ehrgeizig. Woher kommt das?
Ich dachte mir immer: Es darf nicht am Körperlichen, am Konditionellen scheitern. Deshalb habe ich stets so hart und oft trainiert. Irgendwann ging es auf einmal auf. Ich gewann plötzlich als C-Fahrerin Europacuprennen und wurde später direkt ins A-Kader aufgenommen.

Der Rest der Geschichte ist bekannt: Sie gewannen 1984 Ihr erstes Weltcuprennen und wurden später eine der erfolgreichsten Skirennfahrerinnen der Geschichte.
Mein erster Sieg war unglaublich. Ich startete mit der 28 und lag nach dem ersten Lauf überraschend in Führung. Ich war trotzdem überzeugt davon, dass ich es im zweiten Durchgang nicht schaffen werde. Doch dann kam ich mit der «glismetä» Kappe ins Ziel und siegte. Ich konnte mein Glück kaum fassen.

Ende der 80er-Jahre wurden Sie Olympiasiegerin, Weltmeisterin und Gesamtweltcupsiegerin. Doch dann folgte Anfang der 90er eine Krise.
Auf einmal hiess es: «Die Schneider ist vorbei.» Ich hatte damals auch gesundheitliche Probleme, wollte das aber selber nicht richtig wahrhaben. Als die Zeitungen schrieben, ich käme nicht mehr an die Weltspitze zurück, war das ein grosser Ansporn für mich.

Wie nah Freud und Leid zusammenliegen, erlebten Sie 1994. Ende Januar verunglückte Ulli Maier in Garmisch tödlich.
Ulli und ich verstanden uns immer sehr gut, obwohl wir Konkurrentinnen waren. Als ich die 14 Rennen in Serie gewann, war sie oft Zweite. Als sie dann im Januar 1994 in Maribor vor mir siegte, freute ich mich deshalb von Herzen für sie, doch eine Woche später war sie tot.

Maier war damals das einzige Mami im Ski-Zirkus.
Einmal fuhren wir in Frankreich. Wegen eines Stromausfalls konnte der zweite Lauf nicht pünktlich gestartet werden. Da kam Ulli sehr nervös auf mich zu und sagte: «Vreni, was muss ich jetzt machen? Ich habe alles organisiert. Ich will nach dem Rennen mit dem Flugzeug direkt nach Hause fliegen, damit ich mit meiner Tochter Melanie Samichlaus feiern kann. Doch wegen der Verzögerung könnte das alles nun nicht mehr klappen.» Ich habe sie dann beruhigt und ihr gesagt, es gäbe immer eine Lösung. Später hat sie sich bei mir für diese Worte bedankt.

Dachten Sie nach Ihrem Tod an Rücktritt?
Ja, ich weiss aber bis heute nicht, warum ich nicht direkt zurückgetreten bin. Die nächsten Rennen waren in der Sierra Nevada. Viele Fahrerinnen weinten, und die Stimmung war sehr speziell. Im ersten Slalomlauf wagte ich nicht einmal zu kämpfen. Ich kam deshalb mit zwei Sekunden Rückstand ins Ziel. Doch in Durchgang 2 lief es auf einmal, und ich siegte noch. Dieser Lauf war wahrscheinlich der beste meines Lebens. Während der Fahrt dachte ich mir: Ich fahre für Ulli. Sie möchte bestimmt nicht, dass ich nicht mehr kämpfe.

Waren Sie an Maiers Beerdigung?
Nein, meine Familie sagte: «Wenn du an die Beerdigung gehst, wirst du wahrscheinlich nie mehr ein Rennen fahren. So traurig wird das sein.»

Im Februar fanden dann die Olympischen Spiele in Lillehammer statt. Sie gewannen einen kompletten Medaillensatz.
Vor den Spielen trainierten wir in Dombas. Das war der Wendepunkt, da ich dort realisierte, dass ich noch weiterfahren wollte. Ich verstand, dass Ulli nicht mehr zurückkommt, egal, was wir machen. Kurz vor den Rennen erhielt ich dann noch ein Telefon mit der Mitteilung, dass meine Nichte Anja Verena zur Welt gekommen war. Das gab mir zusätzlich Kraft. Gleichzeitig zeigte es einmal mehr auf, wie nah Tod und Leben zusammenliegen.

Nach der Saison 1993/94 dachten Sie aber trotzdem an Rücktritt.
Ich setzte mich an einem wolkenverhangenen Tag in Elm auf das «Chnollä-Bänggli», das heute «Vreni-Bänggli» heisst, und sagte mir: «Die Sieben ist meine Glückszahl. Wenn nach exakt sieben Minuten die Sonne scheint, fahre ich weiter. Wenn nicht, höre ich auf.»

Was passierte dann?
Nach exakt sieben Minuten kam plötzlich die Sonne raus. Deshalb hing ich noch eine Saison an und trat dann erst 1995 zurück.

Von aussen betrachtet sah bei Ihnen alles immer so spielend leicht aus. In Wirklichkeit aber setzte Ihnen der Druck mächtig zu.
Ja, das war so. Als ich in Crans-Montana 1987 erstmals Weltmeisterin wurde, hatte ich Angst, eine Eintagesfliege zu werden. Deshalb waren meine Erfolge – und damit die Bestätigung – ein Jahr später an den Olympischen Spielen 1988 fast noch wichtiger.

Mussten Sie deshalb oft vor dem Start erbrechen?
Nach Crans-Montana kam das häufig vor, es war fast schon ein Ritual. Wenn der Druck gross war, musste ich mich übergeben.

Wie sah das konkret aus?
Es war meist im Startgelände und natürlich nicht schön. Ich machte immer ein Loch in den Schnee, übergab mich und deckte es mit Schnee zu. Einmal hätte ich aber beinahe über den Starter erbrochen. Dafür habe ich mich richtig geschämt und entschuldigt. Und von da weg war ich mir bewusst, dass ich das in den Griff bekommen muss.

War der Druck vielleicht gelegentlich doch zu gross? Alle erwarteten Siege von Ihnen?
Das kann schon sein. Dieses permanente Siegenwollen hat sicherlich an mir gezerrt. Mir war mein Abgang auch immer sehr wichtig. Dass ich dann das letzte Rennen 1995 gewann und so noch einmal den Gesamtweltcup holte, war perfekt.

Sie führen seit 40 Jahren ein Leben in der Öffentlichkeit. Hatten Sie damit nie ein Problem?
Jein, ich war halt für alle «s’Vreni». Wenn man Erfolg hat, ist das so.

2012 traten Sie als Sängerin mit Ihrem Lied «En Kafi am Pischterand» bei «Happy Day» auf. Die Kritik danach war gross.
Das hat mich schon beschäftigt. Vor allem, weil meine Familie darunter leiden musste. Meine Neffen und Nichten mussten sich im Ausgang einiges anhören. Und auch ich bekam viele negative Nachrichten.

Können Sie sich noch an eine bestimmte erinnern?
Es gab einige, die unter der Gürtellinie waren. Als ich aber manchen erklärte, dass ich allfällige Einnahmen an ein Hospiz für sterbende Kinder spenden würde, waren sie plötzlich verständnisvoll. Wissen Sie aber, was das Schönste ist?

Nein.
Offenbar werden noch heute im Wunschkonzert der Musikwelle «En Kafi am Pischterand» und «Gueti Besserig» oft gewünscht. Das zeigt doch, dass die Lieder nicht die schlechtesten waren. Ich war für meinen Auftritt bei «Happy Day» einfach nicht gut vorbereitet, und der Nebel erschwerte das Schunkeln im Takt. Jetzt aber Themenwechsel!

Noch eine Frage zum Thema Öffentlichkeit. 2001 sagten Sie mal: «Man schaut mir dauernd auf den Bauch.»
Nach meinem Rücktritt wollte ich unbedingt Mami werden. Doch es klappte lange Zeit nicht.

Konnten Sie das akzeptieren?
Ich versuchte es und sagte mir: «Vielleicht habe ich während meiner Karriere schon das ganze Glück aufgebraucht. Ich muss es akzeptieren. Ich kann ja auch eine glückliche Tante und Gotte sein.» Dass wir danach dann doch noch zwei Buben bekamen, war natürlich das Allergrösste.

Nach der Geburt Ihres ersten Sohns Florian hatten Sie aber eine Krise.
Das war wegen meiner Mutter. Dass sie diesen wunderschönen Moment nicht miterleben durfte, hat mir wehgetan und zugesetzt.

Im November werden Sie 60 Jahre alt. Graut es Ihnen vor diesem runden Geburtstag?
Ich habe gemischte Gefühle. Es ist ja schön, wenn man alt werden darf. Der 50. war für mich wesentlich schwieriger, weil meine Mutter mit 51 starb. Als mir das bewusst wurde, hatte ich schon noch einmal an ihrem Tod zu knabbern.

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