Swiss Ski geht spezielle Wege, um an der Spitze zu bleiben
Wie steht es um die Schweizer Ski-Zukunft?

Die Schweizer Ski-Gegenwart ist rosig. Und die Zukunft? Die Neuausrichtung von 2019 trägt bereits erste Früchte. Doch wie lautet die Verbandsstrategie?
Publiziert: 27.03.2022 um 17:54 Uhr
Mathias Germann

Fünfmal Gold, einmal Silber, dreimal Bronze: Die Schweizer Skirennfahrer räumten bei den Winterspielen in Peking ab. Corinne Suter, Lara Gut-Behrami, Michelle Gisin, Beat Feuz und Marco Odermatt kehrten als Olympiasieger zurück. Odermatt gewann zudem als erster Schweizer seit zwölf Jahren den Gesamtweltcup. Die Schweiz, die Ski-Nation Nummer 1? Ganz so einfach ist es nicht. Denn: Im Nationencup überholte uns Österreich im Weltcup wieder. Dies, nachdem Swiss-Ski den «Titel» zwei Jahre lang zelebrieren durfte. «Das tut schon weh», gibt Präsident Urs Lehmann zu. Dabei denkt er nicht nur an die zusätzlichen 300’000 Franken, die dem Verband durch die Lappen gehen. Nein, es geht auch um die psychologisch wichtige Vorherrschaft im Duell mit unserem Nachbarn.

Der Winter neigt sich dem Ende zu. Umso mehr lohnt es sich, innezuhalten und Fragen zu stellen. Denn irgendwann ist jeder Champagner ausgetrunken und Peking nur noch eine ferne Erinnerung – wenn auch eine schöne. Wie sieht unsere Ski-Zukunft aus? Wie ist der Nachwuchs in der Schweiz aufgestellt? Können wir Österreich in den nächsten Jahren weiterhin herausfordern? Oder noch besser – schlagen?

Walter Reusser (47) widmet sich seit seinem Amtsantritt 2019 diesen Fragen. Vor allem die Nachwuchsförderung ist dem Schweizer Alpin-Direktor eine Herzensangelegenheit. Er ist überzeugt: «Die Schweizer Ski-Fans müssen sich keine Sorgen machen.» Gleichzeitig sagt Reusser: «Wir haben nicht die Reserven, um uns Fehler zu erlauben.» Ihm ist bewusst, dass vier der fünf Schweizer Olympiasieger 27-jährig oder älter sind. «Sie werden nicht mehr ewig fahren. Wir müssen uns also wappnen», so Reusser. Tatsächlich ist es erst sieben Jahre her, da lag die Schweiz (4962 Punkte) im Weltcup-Ranking nur auf Rang 4, Österreich (11’377 Punkte) hatte mehr als doppelt so viele Punkte. So weit soll es nie mehr kommen. Doch welche Strategie verfolgt Swiss-Ski eigentlich? Was macht man anders als vor zehn Jahren? Und wohin geht die zuletzt erfolgreiche Reise in den nächsten Jahren? Blick nennt die wichtigsten Eckpunkte.

Er veränderte mit seinem Team die Nachwuchsstrategie bei Swiss-Ski: Alpin-Direktor Walter Reusser.
Foto: keystone-sda.ch
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Punkt 1: Jung oder alt? Egal!

Früher war es so: Wer im B- oder C-Kader war, war auch jung. Von dort aus sollte der Sprung nach oben gelingen. Wer ihn nicht in absehbarer Zeit schaffte, wurde aussortiert. Der klassische Darwin-Effekt, nur die Fittesten (oder Besten) überleben. Davon hat man sich bei Swiss-Ski verabschiedet. «Das Pyramidensystem gibt es nicht mehr. Wir bewerten die Stärken und Schwächen jedes Einzelnen, müssen seine Geschichte berücksichtigen. Einem arrivierten Athleten tut es zum Beispiel nach einer Verletzung oft gut, weiter unten neuen Schwung zu holen. Gleichzeitig sollen ganz Junge auch mal bei den Besten reinschnuppern», so Reusser. Das Wichtigste dabei: Niemanden verheizen! «Da haben wir früher auch Fehler gemacht, den jungen Athleten zu früh zu viel Druck aufgesetzt – daran sind sie zerbrochen.» Und wenn eine Athletin wie Priska Nufer mit 30 Jahren ihr erstes Weltcuprennen gewinnt – so geschehen Ende Februar in Crans-Montana –, gehe ihm das Herz auf, so Reusser.

Punkt 2: Habt keine Angst!

«Letzte Saison besuchte ich unsere Frauen-Slalom-Gruppe bei einem Europacuprennen. Es lief ihr nicht, und ich wollte mehr herausfinden. Ich stand also im Startbereich, sah die einzelnen Athletinnen in der Rennvorbereitung und merkte: Sie haben Angst! Angst vor dem Versagen», erinnert sich Reusser. Den verantwortlichen Trainer warf Reusser aber nicht raus, sondern beorderte ihn in den Weltcup. Warum? Damit er dort als Assistent von den anderen Coaches lernen konnte. «Ich vertraue unseren Athleten und Trainern. Sie müssen keine Angst haben, wenn mal etwas in die Hose geht – das gibt es im Spitzensport. Ich will, dass alle mit Freude dabei sind, etwas versuchen, aber immer auch hart arbeiten», so Reusser.

Punkt 3: Konkurrenz belebt das Geschäft!

2019 hatte Swiss-Ski 76 Kader-Athleten (C-, B-, A-Kader und Nationalmannschaft). Heute sind es 101. «Ich habe von Anfang an gesagt: Wir brauchen 30 Prozent mehr Skirennfahrer. Mein Ziel sind 110. Sie treiben sich gegenseitig vorwärts, haben Vergleiche, Vorbilder. Diese Dynamik ist von unschätzbarem Wert», findet Reusser. Vor allem das C-Kader ist für den ehemaligen Stöckli-Boss zentral: «Es darf keinen Flaschenhals mehr sein in der Entwicklung eines Fahrers. Manchmal geben wir ihm ein oder zwei Jahre mehr Zeit, obwohl er kein Junior mehr ist. Gleichzeitig muss er sich bewusst sein, dass dies kein Freipass ist, um sich auszuruhen.»

Punkt 4: Alles fahrt Ski! Oder doch nicht mehr?

Die Schweiz hat 6000 lizenzierte Skirennfahrer. Auch diese Zahl will Reusser nach oben treiben. Entscheidend: All jene, die den Traum haben, einmal Weltmeister zu werden, sollen die Rahmenbedingungen dafür erhalten. Reusser: «Beim Übertritt vom Kinderrennsport zum Erwachsenenrennsport hören noch immer viel zu viele auf. Sie denken: «Ich schaffe es nicht, ich bin zu weit weg!» Aber kann man dies mit 16 wirklich wissen? Es ist es wert, mindestens bis 18 dranzubleiben – auch aus gesellschaftlicher Sicht. Es gibt viele Wandel in dieser Zeit. Die Schule, die Lehre, die Freundin, der Ausgang – ein emotionales Auf und Ab. Beim Sport erhält man eine Beständigkeit, er generiert eine innere Ruhe. Die jungen Athleten, aber auch ihre Eltern, sollen dabei wissen: Sie dürfen auch mal stolpern, wir lassen sie deswegen nicht fallen.»

Punkt 5: Ohne Geld geht nichts!

Das Budget von Swiss-Ski wächst und wächst – aktuell beträgt es über 60 Millionen Franken. Das braucht es auch, denn der Apparat frisst viel Geld. Swiss-Ski versucht dabei, auch am Kern des Skirennsports zu investieren. Seit zwei Jahren gibts für die Regionalverbände eine Million Franken zusätzlich für die Ausbildung der Talente. Dazu U16- und U18-Leiter, damit die Regionen nach gleichem Konzept arbeiten und der Übertritt zu einem der drei Nationalen Leistungszentren Ost, Mitte und West gelingt. «Zwischendurch nehmen wir die Besten zusammen, sie dürfen im Sommer auch mal auf einer Weltcuppiste in Zermatt trainieren. Einerseits sehen sie, was ihnen noch fehlt an die Spitze, andererseits motiviert das extrem», so Reusser.

Was bleibt? Die Erkenntnis, dass die ideale Nachwuchsförderung keine exakte Wissenschaft ist. Trotzdem – oder genau deswegen – braucht es eine Struktur, ein Konzept, in dessen Rahmen sich die Athleten bewegen. Reusser: «Früher hatten wir zu viele Doppelspurigkeiten, vieles war intransparent. Wir haben alles aufgebrochen, ausgewertet und unsere Schlüssel gezogen. Wenn ein Vater mir heute sagt, dass sein zehnjähriger Sohn davon träumt, so gut wie Marco Odermatt zu werden, kann ich ihm sagen, was es dazu braucht und was der Verband dafür tut. Bis vor wenigen Jahren wäre das noch unmöglich gewesen.»

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