Dumeng Giovanoli löst seinen Wetteinsatz ein
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«Perren en tour»:Dumeng Giovanoli löst seinen Wetteinsatz ein

«Wir fuhren ohne Fangnetze!»
Slalom-Legende (79) besucht Yule mit dem Velo

52 Jahre lang ist Dumeng Giovanoli der einzige Schweizer, welcher in Kitzbühel den Weltcup-Slalom ­gewinnen konnte. Doch dann bringt Daniel Yule mit seinem Sieg den fast 80-Jährigen so richtig ins Schwitzen!
Publiziert: 19.01.2021 um 18:06 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2021 um 12:43 Uhr
Marcel W. Perren (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Das Velo gehört neben den Ski seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Sportgeräten von Dumeng Giovanoli. Im Sommer 2019 spult Giovanoli bei seinem «Giro» durch Italien 2000 ­Kilometer mit seinem «Renner» ab. Und nach jedem Slalom in Kitz­bühel sagt Dumeng: «Falls ich es noch erlebe, dass ein Schweizer Slalomfahrer am Hahnenkamm gewinnt, werde ich ihn mit dem Fahrrad besuchen!»

Am 26. Januar 2020 ist es so weit: Daniel Yule gewinnt auf dem Ganslernhang als zweiter Schweizer den Weltcup-Slalom. Am Tag danach kreiert Dumeng eine Viertagestour für die rund 400 Kilometer von seinem Wohnort Sils Maria GR zu Yules Residenz in La Fouly VS. Doch eine Rückenoperation durchkreuzt die Pläne des WM-Bronzegewinners des Riesenslaloms 1970.

Nusstorte als Mitbringsel

Im Oktober meldet er sich bei SonntagsBlick: «Für die Velotour ins Wallis bin ich nach dieser OP nicht fit genug. Aber ich könnte ja mit dem Velo auf die Diavolezza fahren, wo Yule derzeit trainiert. Damit hätte ich ja meine Wette auch eingelöst, oder?» Natürlich, akzeptiert!

Dumeng Giovanoli löst seinen Wetteinsatz ein.
Foto: Sven Thomann
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Am 20. Oktober um 13.13 Uhr nimmt Giovanoli mit dem Mountainbike die rund 30 Kilometer in Yules Trainingsquartier unter die Räder. Kurz vor 14.30 Uhr trifft er bei seinem Nachfolger ein. Es ist das erste Mal, dass sich der alte und der gegenwärtige Schweizer Slalom-Held gegenüberstehen.

Giovanoli packt zur Begrüssung eine Engadiner Nusstorte aus dem Rucksack. «Für dich, lieber Daniel.» Yule schnalzt mit der Zunge: «Herzlichen Dank! Bier und ­Fondue konsumiere ich nur in der wettkampffreien Zeit. Aber Süssigkeiten kann ich nie widerstehen. Und man muss sich zwischendurch ja auch so etwas gönnen, sonst macht das Leben keinen Spass. Und hat man keinen Spass, ist man auch nicht mehr schnell.»

Giovanoli: «Da hast du recht. Ich habe in Kitzbühel oft am Nachmittag vor dem Rennen einen Apfelstrudel gegessen. Aber schau, ich habe dir noch etwas mitgebracht.» Dumeng öffnet ein Album mit den schönsten Dokumenten seiner Skikarriere. Er zeigt mit dem Finger auf ein Foto von 1968, das eine lebhafte Diskussion auslöst.

Dumeng Giovanoli: Schau, da habe ich im Januar eine Woche vor dem Kitzbühel-Triumph den Lauberhorn-Slalom gewonnen. Es hat ­damals extrem geregnet.
Daniel Yule: Wie bitte? Es hat schon damals geregnet?
Giovanoli: Es hat geschüttet wie aus Eimern!
Yule: Und ich habe immer ­geglaubt, dass Regen im Januar heute auf den Klimawandel zurückzuführen sei (Yule deutet auf die nächste ­Albumseite). Sind das Bilder von deinem Sieg in Kitzbühel?
Giovanoli: Genau! Siehst du, da habe ich die Rangliste eingeklebt.

Yule, der im letzten Winter in 1:41,50 gewonnen hat, deutet auf Giovanolis Gesamtzeit von 2:03,22 und sagt: «Ja, da sind wir heute schon ein bisschen schneller …»

Giovanoli: Ich würde nie sagen, dass ihr heute schneller seid – wir waren einfach deutlich länger ­unterwegs ...
Yule: Was sich sicher nicht verändert hat: Der Slalom in Wengen stellt für mich mit diesem Steilhang und den vielen Übergängen das Nonplusultra dar.
Giovanoli: Ich gebe dir recht. ­Kitzbühel ist dagegen kein schöner Slalom-Hang. Die Streckenführung im ersten Lauf finde ich noch okay, aber im zweiten Durchgang geht es jeweils an einer Stelle sogar leicht bergauf.
Yule: Der Hang in Kitzbühel ist sehr speziell. Du hast alles drin, und keine zwei Kurven sehen gleich aus. Das macht ihn auch einzigartig.

Giovanoli hat in der Zwischenzeit ­einen Laptop organisiert, zeigt Yule eine kurze Videosequenz seines ­Triumphs am Lauberhorn.

Yule: Seid ihr da durch Kipp­stangen gefahren?
Giovanoli: Wo denkst du hin, wir hatten Holzstangen. Schau, das ist ein Video von der Lauberhorn-­Abfahrt im selben Jahr. Da siehst du Jos Minsch, damals ein absolut aussergewöhnlicher Athlet.
Yule: Warum aussergewöhnlich?
Giovanoli: Er war ein grandioser Skifahrer, hat aber vom Konditionstraining nichts gehalten. Forderte uns der Trainer im Sommer zum Laufen auf, verweigerte Jos mit den Worten: «Segglä hani nid nötig.» Lieber hat er eine Zigarette ­geraucht, die er an den Rennen in der Zwischenablage seines Helms versteckte ... Und hier siehst du mich auf der Lauberhorn-Abfahrt!
Yule: Was, du bist auch noch ­Abfahrt gefahren?
Giovanoli: Ja, ich habe sogar mit der Abfahrt begonnen, war einmal Schweizer Meister. Aber von den vielen Schlägen auf den Abfahrts­pisten bekam ich Rückenbe­schwerden. Deshalb habe ich mich dann mehr auf Riesen- und Slalom ­konzentriert.
Yule: Wenn ich die Bilder sehe, erstaunen mich die Rückenschmerzen nicht. Habt ihr eigentlich keine Fangnetze gehabt?
Giovanoli: Nein, nur Staketen­zäune. Glaube mir, ich wäre ein paar Mal froh gewesen, wären diese Holzzäune nicht da gewesen – die haben dich regelrecht zerrupft.
Yule: Warst du da auch auf Holzski unterwegs?
Giovanoli: Nein, das waren schon Metallski. Weil wir keine Ausrüster­verträge hatten, konnte ich in jeder Disziplin eine andere Skimarke fahren. Zum Beispiel auf der Abfahrt Head und im Slalom Rossignol. Speziell ist auch die Geschichte, wie ich zu den ersten modernen Schuhen gekommen bin.
Yule: Ich bin gespannt.
Giovanoli: Im Winter 1967 war ich mit Lederschuhen der Firma Raichle unterwegs. Im März flogen wir nach Nordamerika. An einem rennfreien Tag sass ich mit meinem Kumpel Stefan Kälin an einer Bar in Aspen. Um zwei Uhr morgens sprach mich der Barbesitzer an und zeigte auf einen Mann: «Kennst du diesem Mann?» Ich schüttelte den Kopf. «Das ist Bob Lange, der Erfinder der berühmten Lange-Schuhe.» Ich habe Lange mit meinem Engadiner-Englisch angesprochen. Er reichte mir die Hand und fragte: «Willst du meine neuen Schalen-Schuhe ausprobieren?» Ich sagte laut und deutlich «Yes». Ein paar Tage später testete ich diesen Schuh erstmals im Training aus. Bereits beim ersten Schwung habe ich gemerkt: Dieser Schuh ist eine Revolution.
Yule: Super Story. Gibt es etwas aus der heutigen Zeit, dass du gerne zu deiner Zeit gehabt hättest?
Giovanoli: Dass wir kein Geld ­verdient haben, ist für mich kein Problem. Ich bin dankbar, dass ich dank dem Skirennsport kostenlos um die Welt reisen durfte. Aber die längere Vorbereitungszeit hätte ich gerne gehabt. Wir hatten vor dem Winter vielleicht 20 Trainingstage auf Schnee. Mein 14-jähriger Enkel ist vor seiner JO-Saison öfter auf Ski als ich damals.
Yule: Das ist schon unglaublich. Aber heute, wo jeder Slalom-Hang mit riesigem Aufwand präpariert wird, würde ich mir manchmal diese natürliche, ganz einfache Rennform aus deiner Zeit zurückwünschen. Ein paar Tore einstecken, und los gehts. Wie damals in meiner Jugendzeit.
Giovanoli: Ich kann mich noch genau erinnern, als ich in den frühen 70er-Jahren erstmals mit Mentaltraining konfrontiert wurde ...
Yule: Hast du gut darauf angesprochen?
Giovanoli: Bernhard Russi und Werner Mattle haben gut darauf angesprochen, ich nicht wirklich. Unser Mentaltrainer war ein Zahnarzt aus Lausanne. Er hat behauptet, er könne seine Patienten ohne Spritze behandeln, weil er ihnen mit Zureden die Schmerzen nehme. In einem Trainingslager am Schwarzsee wollte er uns das demonstrieren. Die ganze Mannschaft war versammelt. Wir legten uns auf Pritschen und haben die Augen geschlossen. Mit sonorer Stimme wiederholte er immer wieder: «Dein linker Arm wird ­unempfindlich.» Nachdem er es 20 Mal gesagt hatte, stach er mit einer Nadel einem Teamkollegen in den Arm. Der hat laut «aua!» geschrien … Da war mein Vertrauen dahin. Das gab ich ihm auch ­immer wieder deutlich zu spüren.
Yule: In welcher Form?
Giovanoli: Vor einem Start am Lauberhorn sagte er zu mir: «Du kannst gewinnen, ich bin bei dir.» Ich meinte: «Spätestens im Steilhang bist du weit weg von mir …»
Yule: Ich bin schon einigen Mentaltrainern begegnet. Noch bei keinem hatte ich das Gefühl, dass er mir wirklich helfen kann. Wenn mir so ein Seelenklempner erklären will, wie ich vor einem wichtigen Rennen den Druck ausblenden soll, kann ich das nicht wirklich ernst nehmen, weil mir noch keiner begegnet ist, der selber mit einer ähnlichen sportlichen Drucksituation umgehen musste. Da steckt mir zu viel Theorie und zu wenig Praxis dahinter. Es gibt für Spitzensport kein generelles Erfolgsrezept, alles ist individuell.
Giovanoli: Ich sehe, uns verbindet viel mehr als der Slalom-Sieg in Kitzbühel. Ich würde mich sehr freuen, dich nach dieser Saison wieder einmal zu treffen.
Yule: Sehr gerne. Ich könnte dir tagelang zuhören, wenn du die grossartigen Geschichten aus deiner Aktivzeit erzählst.

Gut möglich, dass die beiden am 23. Januar telefonieren werden – an diesem Tag wird Giovanoli 80 Jahre alt. Zuvor will Yule aber im zweiten Flachau-Slalom heute ­glänzen.

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