Alcaraz und Co. doch nie auf Niveau von Djokovic?
Vielleicht gaukeln wir uns alle etwas vor

Die ATP-Finals waren einmal mehr eine Machtdemonstration von Novak Djokovic. Carlos Alcaraz scheiterte im Halbfinal krachend. Eine Momentaufnahme? Oder kann er den Big 3 des Tennissports doch nicht das Wasser reichen? Blick-Tennisexperte Heinz Günthardt ordnet ein.
Publiziert: 23.11.2023 um 10:31 Uhr
|
Aktualisiert: 23.11.2023 um 13:43 Uhr
Novak Djokovic (l.) hat Carlos Alcaraz an den ATP-Finals eine Lektion erteilt.
Foto: Getty Images
1/7
14_Nadal2_15_Günthardt2_guenthardt-EX40404.jpg
Heinz GünthardtBlick-Kolumnist

Bei den ATP-Finals, dem Turnier der besten 8 der Saison, treffen am letzten Samstag im Halbfinal der Carlos Alcaraz (20) und Novak Djokovic (36) zum dritten Mal in diesem Jahr aufeinander. Seit Monaten stehen die beiden abwechselnd an der Spitze der Weltrangliste. Die Tenniswelt erwartet ein Duell auf Augenhöhe.

Motiviert bis in die Fingerspitzen legt der junge Spanier los und erspielt sich gleich zwei Break-Möglichkeiten, die er allerdings nicht nutzen kann. Genüsslich knabbere ich an meinen bereitgelegten Erdnüssen: Was für ein Auftakt!

Aber leider ist dieser Startschuss auch gleich der Höhepunkt der Partie. Was folgt, ist eine Machtdemonstration des Serben. Nur fünf Games gibt er ab. Als Alcaraz die US Open im letzten Jahr gewinnen konnte – und damit zur jüngsten Nummer 1 aller Zeiten wurde –, war fast schon ein kollektives Aufatmen der Tenniswelt zu spüren. Endlich kommt ein neuer Federer, Nadal oder Djokovic nach. Einer, der neue Höhen erklimmt, noch athletischer ist, noch härter schlägt und noch besser Tennis spielt als die drei Superstars, die geboren wurden, bevor es das erste Smartphone gab.

Und nun das! Wie kann Alcaraz so untergehen? Vielleicht kann der Youngster mit dem Erwartungsdruck nicht umgehen. Unter Umständen ist er auch nur ein wenig ausgelaugt seit seinem Sieg in Wimbledon. Möglicherweise braucht er nur eine Verschnaufpause, bevor er im nächsten Jahr in Australien Djokovic wieder die Stirn bieten kann. Alles denkbar – auch eine Kombination von allem.

Aber es gibt auch noch eine andere Möglichkeit: Vielleicht gaukeln wir uns auch alle gerne etwas vor. Der Mensch will, dass morgen alles besser ist als gestern. Das treibt ihn an. Wer glaubt, die besten Zeiten seien vorbei, läuft Gefahr, in Nostalgie zu verfallen und depressiv zu werden. Die Geräte, die wir nutzen, werden tatsächlich besser. Nach dem iPhone 13 kommt das iPhone 14. Die Kamera hat eine bessere Auflösung, der Prozessor ist schneller, der Bildschirm klarer.

Tennis ist schwierig, zu messen – zum Glück!

Nur, werden wir Menschen auch immer besser? Sind wir gescheiter als früher, schneller, stärker? Kitzelt die moderne Wissenschaft auch mehr Leistung aus uns heraus? Gibt es den Homo sapiens 2.0?

Tennis ist schwierig zu messen. Ein schnellerer Schlag ist nicht automatisch auch ein besserer Schlag. Am Ende zählen nur Sieg und Niederlage. Deshalb sind verschieden Epochen auch schwierig miteinander zu vergleichen. Sind Federer, Nadal und Djokovic die besten ihrer Zeit oder die besten aller Zeiten? Ist Novak heute besser als vor 5 Jahren?

«Selbstverständlich spielt Novak jedes Jahr noch besser und steht nur deshalb immer noch an der Spitze», hört man fast schon gebetsmühlenartig aus der Tennisszene. Wirklich?

Die Alternative, dass die besten Tennismatches aller Zeiten bereits gespielt sind, wäre allerdings auch schlecht fürs Geschäft. Im Tennis können wir uns glücklicherweise zusammenschustern, was uns gefällt. Niemand kann das Gegenteil beweisen. Diesen Luxus hat die Leichtathletik nicht. Dort ist alles messbar und gewisse Rekorde stimmen nachdenklich. Jarmila Kratochvilova erzielte ihren Weltrekord über 800 Meter im Jahr 1983. Florence Griffith Joyner lief ihre Bestmarken über 100 und 200 Meter 1988 in Seoul. Der Diskus-Weltrekord wurde 1986 von Jürgen Schult geworfen. Im Vergleich dazu fühlen sich die vor 15 Jahren gestoppten Rekorde von Usain Bolt über 100- und 200 Meter an, als habe er sie letzte Woche aufgestellt. Diese Liste ist längstens nicht vollständig und könnte noch um einiges verlängert werden.

Die Besten aller Zeiten?

Demnach ist es gut möglich, dass Djokovic, Federer und Nadal, nicht die Besten ihrer Zeit, sondern tatsächlich die Besten aller Zeiten sind. Möglicherweise kann ein Mensch schlicht nicht besser Tennis spielen als diese drei in Bestform. Haben sich die drei vielleicht gegenseitig auf Höhen gepusht, die niemand mehr erreichen kann? Höher, schneller, stärker!

Eines Tages wird Novak altersbedingt zu langsam sein. Oder die Motivation verlieren. Oder verletzt aufgeben müssen. Dann wird es eine neue Nummer 1 geben – die beste Nummer 1 aller Zeiten.

Djokovic feiert 7. Titel an den ATP Finals mit seinen Kindern
0:29
Herziger Moment nach dem Match:Djokovic feiert Titel an den ATP Finals mit seinen Kindern


Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?
Liebe Leserin, Lieber Leser
Der Kommentarbereich von Blick+-Artikeln ist unseren Nutzern mit Abo vorbehalten. Melde dich bitte an, falls du ein Abo hast. Noch kein Blick+-Abo? Finde unsere Angebote hier:
Hast du bereits ein Abo?