Er siegt und flucht schon wie Federer
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Wunderkind Flynn Richter (12):Er siegt und flucht schon wie Federer

Tennis-Wunderkind Flynn Richter (12)
Er siegt und flucht schon wie Federer

Tennis-Juwel Flynn Richter ist 12 und schon besser als die meisten 14-Jährigen. Das liegt womöglich auch an seinem Asperger Syndrom.
Publiziert: 19.07.2020 um 00:26 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2020 um 20:28 Uhr
Cécile Klotzbach (Text) und Sven Thomann (Fotos)

Die Geschichte von Flynn Richter erinnert schon jetzt an die besten Profijahre von Roger Federer: Spielt der derzeit beste U12-Junior Europas irgendein Turnier in der Schweiz, könnte man ihm eigentlich schon im Vornherein den Pokal in die Hand drücken. So auch letzte Woche, als er zum fünften Mal in Folge die Schweizer Meisterschaft seiner Altersklasse gewann. Im Spaziergang – einmal 6:1, 6:1, dreimal 6:0, 6:0!

Der zwölfjährige Ebmatinger ist mit 1,42 Meter nicht gross für sein Alter. Sein Körperbau ist zart, sein Gesicht wirkt umrahmt von blonden Haaren engelsgleich. Doch wer ihm auf dem Court begegnet, fühlt sich in die Hölle katapultiert. Hier wird der kleine Flynn zum wilden Löwen – kampflustig, ehrgeizig und oft etwas zu ungehalten und laut.

Federer ist nicht sein Vorbild

Als Vorbilder nennt das Wunderkind nicht Federer. Den bewundert er zwar, aber mit dem 38-Jährigen kann er sich weniger identifizieren als mit dem jungen Australier Alex de Minaur (21). Oder mit seinem Idol Novak Djokovic (33). Warum der Serbe? «Den haben sie auch nicht so gern», sagt Flynn mit einem verschmitzten Lächeln, die Tatsache kratzt ihn keine Spur. «Wenn das Publikum gegen mich ist, werde ich nur noch besser.»

Flynn Richter ist der beste Tennis-Junior Europas.
Foto: Sven Thomann
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Flynn kennt den tückischen Kreislauf, in dem sich auch Weltnummer 1 Djokovic befindet. Er geht nur zum Gewinnen auf den Platz. Weil er dies so oft tut, sind die Zuschauer meist für die Gegner, klatschen sogar bei seinen Fehlern. «Ich mache dann ‹Let’s go› und provoziere zurück», sagt der Junge. Besonders in der Deutschschweiz käme er damit nicht gut an, im Ausland möge man sein heissblütiges Gemüt. «Auch die Welschen haben mich gern.»

Trotzdem möchte Flynn sein cholerisches Verhalten bessern – psychologische Hilfe nimmt er dafür schon in Anspruch. Was will er auf seinem Weg zum Ziel, eines Tages die Nummer 1 der Welt zu werden, noch verbessern? «Technisch? Das sage ich nicht – sonst kommen die anderen ja drauf.»

Erstaunliche Worte eines Zwölfjährigen. Aber sie passen zum Rest des Bildes. Das mit Abstand beste Schweizer Tenniskind, das hierzulande auch den älteren Jahrgang 2007 dominiert, ist – zumindest mit dem Racket – seiner Zeit voraus.

Alles kommt von ihm, nicht von den Eltern

Ist nach Federer also tatsächlich wieder ein Überflieger im Anflug? «Flynn ist auf gutem Weg – aber der Weg ist noch sehr lang», warnt sein Trainer. Es ist Robin Roshardt, Sieger 2005 der Junioren-WM «Orange Bowl». Flynns zweiter Headcoach ist der einstige Wimbledon-Juniorensieger (2001) Roman Valent. Bei den Profis haben es Roshardt und Valent nie unter die Top 500, respektive 300 geschafft. Beide wissen genau, wie schwierig der Durchbruch zu den ganz Grossen ist.

Flynn trainiert seit zwei Jahren unter Roshardts Fittichen täglich rund drei Stunden in dessen Akademie auf der Zürcher Tennisanlage Lengg. Dort ist man sich des preziösen Schatzes sehr wohl bewusst. Der Besitzer des Klubs, Alfred Meili, sponsert den Buben, seitdem er ihn erstmals spielen sah. Neuerdings finanziert auch der bekannte Tennis-Förderer Reinhard Fromm sein jüngstes Ross im Stall. Die beiden Unternehmer stehen voll hinter Flynn, auch Swiss Tennis unterstützt ihn. Warum, das erklärt Tennislehrer Roshardt: «Flynn ist mega talentiert, ist ein härterer Arbeiter als alle anderen und hat eine sehr gute Einstellung.» Das Wichtigste: «Es kommt von ihm selbst, nicht vom Umfeld.»

Auch dieses entspricht bei Flynn keineswegs der Norm. Seine Mutter Sandra (ihre drei Kinder sollen bald ebenfalls mit Nachnamen «Thomas» heissen) ist keine typische Tennis-Mama. Sie ist alleinerziehend – zum Vater hat die Familie keinen Kontakt. Die kaufmännische Angestellte arbeitet hundert Prozent, von den Trainings und den vielen Wochenend-Turnieren ihres Sohnes bekommt sie in der Regel nicht viel mit.

Flynn gilt als «nicht beschulbar»

Für ein Treffen mit SonntagsBlick in ihrer Wohnung in Ebmatingen ZH opfert sie ihre Mittagspause. Daheim am Tisch – umgeben von Hund Bruno, drei Katzen und zwei Schildkröten – erzählt sie, wie dankbar sie ist für die fürsorgliche Betreuung von Roshardt und Valent, wegen denen sie extra ihren Wohnort von Kriens LU nach Zürich gewechselt habe. Sie stehe voll hinter Flynns Karriere, habe lange Zeit 60'000 bis 80'000 Franken jährlich für seine Tennis-Ausbildung zusammengekratzt. Den Rest müsse er nun alleine machen. «Je mehr die Eltern pushen, desto schlechter», ist Sandra Thomas überzeugt. Flynn sei sehr selbständig, zu den meisten Terminen fahre er alleine mit dem Bus. Das mache ihren Sohn in der Szene zusätzlich zum Aussenseiter. «Wenn Eltern nicht immer präsent sind, um ihre Talente zu unterstützen, kommt das bei anderen schräg an.»

Sandra Thomas ist in der Tat keine typische Tennis-Mama. «Steht es 4:1 für mich, zählt sie 6:1 für den Gegner!», tut Flynn empört. «Ich bin bekannt dafür, dass ich immer falsch zähle», gibt Frau Thomas zu. Sie hat aber auch ganz andere Probleme: Ihr Sohn hat das Asperger Syndrom – eine Form von Autismus. «Leider gilt das in der Schweiz als Krankheit, eigentlich ist es aber nur eine Besonderheit», erklärt sie. Flynn, dem es schwerfalle, Fremden direkt in die Augen zu schauen, gilt als «nicht beschulbar», besucht nur gelegentlich die Montessori-Lip-Schule in Zürich, wo ein Lernprogramm auf ihn abgestimmt wurde. Seine Mutter sieht das locker: «Es muss ja nicht jeder studieren. Klappt es mit der Tenniskarriere nicht, kann er auch mit 20 noch eine Ausbildung machen.»

Autistische Menschen haben Schwierigkeiten mit sozialen Kontakten und emotionalen Reizen. Dafür sind gewisse Charakterzüge und Neigungen besonders ausgeprägt. «Alles, was Flynn interessiert, lernt er innert Minuten oder Sekunden. Was er als nicht notwendig erachtet, blendet er aus», sagt Sandra Thomas. Ihr Sohn ist sprachlich begabt – er spricht bereits fliessend Englisch, will Französisch und Russisch lernen. Ansonsten liegt Flynns ganzes Interesse – wen wunderts? – beim Tennis.

Drei sportliche Kinder auf Leistungsniveau

Sandra Thomas ist hingegen nicht sonderlich sportinteressiert. Umso erstaunlicher, dass ihre beiden Töchter ebenfalls auf Leistungsstufe trainieren und die Sportschule besuchen. Leonie (15) ist aktuelle Vizemeisterin bei der Schweizer Squash-Elite, Hannah (13) ist die Nummer 1 ihres Jahrgangs im Eiskunstlauf. Scherzhaft erklärt die Mutter ihr Rezept: «Gute Corn Flakes zum Zmorge ...» Es liege wohl an der Erziehung. «Ich wollte, dass jedes meiner Kinder etwas macht. Und zwar richtig, nicht halbbatzig. Sport hält gesund und gehört zu einem strukturierten Tagesablauf.» Sie empfinde die Leistungen ihres Nachwuchses nicht als überwältigend. «Vielleicht tönt es etwas hart, aber ich erwarte sie bis zu einem gewissen Grad auch.» Als Kind deutscher Eltern, die von der Nachkriegszeit geprägt wurden, sei sie selbst so aufgewachsen. «Das gebe ich ihnen jetzt weiter.»

Flynn wünschte sich einen Tennisschläger zum sechsten Geburtstag, erhielt eine Tennisstunde von einem Nachbarn. «Danach sagte der Tennislehrer, solch eine Begabung habe er noch nie gesehen.» Flynn erhielt ein paar Gratis-Stunden, um zu sehen, ob sein Können Zufall oder Wunder war. Thomas: «Ab da nahm das Ganze seinen Lauf.»

Medien und Manager schon interessiert

Heute wird das Wunderkind bereits als kleiner Star gehandelt. Auf Instagram zählt Flynn schon über tausend Abonnenten – dies, obwohl er seinen Account nicht besonders sorgfältig füttert. Medien, Manager und grosse Sportvermarkter sind schon hinter ihm her. Aber auch diesbezüglich will die ungewöhnliche Tennis-Mama den Ball flach halten. «Alle sagen mir, Flynn sollte professioneller betreut werden. Aber ich finde, er ist noch zu jung, wird von seinen Trainern professionell genug betreut.»

In seinem Kinderzimmer sammeln sich derweil die eigenen Pokale und Poster grosser Stars, von denen er erst Stan Wawrinka einmal für zwei Minuten kennenlernen durfte. Erst einmal besuchte er ein grosses ATP-Turnier – als er bei den Swiss Indoors in Basel Stefanos Tsitsipas auflaufen sah, habe Flynn vor Freude weinen müssen, erzählt Frau Thomas. Dieses Ticket sei ihm von seinem grössten Fan geschenkt worden, einem Mann, der Flynn nahe steht und der ihm extrem viel bedeutet. Gerne würde die Mama ihm solche Erlebnisse öfters bescheren. «Aber wir haben nicht genug Geld, um an teure Turniere zu reisen.»

An der Wand steht ein grosses Netz, gegen das der Bub in der Freizeit stundenlang Bälle dreschen kann – wenn er nicht gerade Tennisvideos auf Youtube anschaut. «Er macht fast nichts anderes, hat ja keine Kollegen», sagt die Mutter gerade heraus. Dass ihr Sohn «hierzulande der verhassteste Junior» ist, erklärt sie vor allem mit dessen Überlegenheit. «Sieht man ihn Tennis spielen, vergisst man eben, wie jung er noch ist. Das können viele im Kopf nicht vereinbaren.»

Sandra Thomas nimmt ihren Sohn auch in Schutz, wenn sich dieser auf dem Platz nicht immer regelkonform verhält. «Im Kopf hat er jeden Punkt schon gespielt. Kommt es dann anders, regt ihn das auf.» Neben dem Platz sei er jedenfalls der netteste Bub, den man sich wünschen kann. Ausserdem: «Ich sah Videos von Roger Federer als Junge – der hat sich früher mindestens so schlimm benommen.» Also noch eine Parallele zum Schweizer Rekordsieger.

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