Vor dem spektakulären Startschuss an den Australian Open
Die zehn heissen Fragen zum neuen Tennis-Jahr

Blick-Tennisexperte Heinz Günthardt ordnet die Ausgangslage vor dem ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres ein. Was Alcaraz abhandengekommen ist, warum Wawrinka auch mit bald 39 gefährlich ist – und weshalb es für Rune trotz Traumduo Lüthi/Becker kein Selbstläufer wird.
Publiziert: 09.01.2024 um 10:58 Uhr

Ist Alcaraz von der Konkurrenz entschlüsselt worden?

Seit seinem grandiosen Wimbledon-Triumph im letzten Juli hat Carlos Alcaraz (20) keinen Titel mehr eingefahren und zweimal gegen Rivale Novak Djokovic (36) verloren. Der Power-Spanier musste nach seinem steilen Aufstieg erstmals eine längere, schwierigere Phase durchstehen – die Australian Open sind nun ein echter Test für die Weltnummer zwei.

Das sagt Günthardt: «Alcaraz ist ganz sicher entschlüsselt worden. Das heisst aber nicht, dass dies seinen Gegnern hilft. Denn auch das Spiel eines Björn Borg, Novak Djokovic oder Rafael Nadal war und ist bekannt. Trotzdem bringt nicht jeder die Mittel auf, die Top-Shots wirklich zu schlagen. Bei Alcaraz ist das Problem vielmehr, dass er im Zuge seines Aufstiegs viel Energie verbraucht hat. Er spielt nun unter anderen Voraussetzungen und muss lernen, sich an diese zu gewöhnen. Ausserdem ist ihm durch die Niederlagen im Herbst der Nimbus des Unbesiegbaren abhandengekommen. Auch den muss er sich wieder erarbeiten. Eines bleibt aber: Sein Potenzial ist aufgrund seines Talents und seiner Athletik enorm.»

Wird 2024 das letzte Hurra von Wawrinka?

«Ich geniesse einfach, was ich tue. Wenn du in einer Sache immer noch die Leidenschaft in dir spürst, solltest du nichts daran ändern. Klar, ich bin alt – aber ich fühle mich gut.» Das sagte Stan Wawrinka im Rahmen der US Open letzten Spätsommer. Im März wird er 39 Jahre alt. Doch am Tatendrang des ältesten Spielers der Top 100 der Welt (aktuell ATP 56) ändert dies nichts.

Carlos Alcaraz strebt 2024 seinen dritten Grand-Slam-Titel an – gelingt ihm dies schon in Melbourne?
Foto: Getty Images
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Das sagt Günthardt: «Der Australier Ken Rosewall (89) schaffte es einst als 40-Jähriger noch in den Wimbledon-Final. Ausserdem war er – wie Stan – ein begnadeter Rückhand-Spieler. Man nannte ihn «Muscle», während Stan mit «The Man» einen nicht weniger potenten Übernamen hat. Diese Parallelen dürfen uns Schweizern Hoffnung machen. Sein Niveau ist noch immer hoch. Wawrinka träumt von einem letzten Titel auf der Tour? Warum nicht! In Umag stand er letztes Jahr bereits in einem Final. Und was seinen Abschied anbelangt: Er wird dann abtreten, wenn es sich für ihn richtig anfühlt.»

Wird Rune unter dem Trainer-Duo Lüthi/Becker Grand-Slam-Sieger?

Holger Rune (21) hat sich kurz vor Weihnachten selbst beschenkt. Nach Ex-Djokovic-Coach Boris Becker (56) holte er auch noch den früheren Roger-Federer-Trainer Severin Lüthi (48) ins Boot. Geballtes Grand-Slam-Know-how.

Das sagt Günthardt: «Die neue Entourage mit diesem enormen Wissen kann Rune durchaus den nötigen Wind in die Segel treiben, um einen grossen Titel zu holen. Dennoch steht er für mich in der zweiten Reihe der Anwärter. Der Abstand zu Djokovic, Alcaraz oder auch einem Daniil Medwedew (27) ist (noch) zu gross. Die Konstanz fehlt bislang. Für einen Coup müsste viel zusammenpassen. Der Start ins Jahr mit dem Brisbane-Final war aber schon mal vielversprechend.»

Welche Schweizerin glänzt in Abwesenheit der schwangeren Bencic?

Mit Belinda Bencic (26) fehlt die bestklassierte Schweizerin (WTA 19) auf der Tour. Wann die Ostschweizerin von ihrer Baby-Pause zurückkehrt, bleibt abzuwarten. Der Geburtstermin ist im Frühjahr. Als einzige Schweizerin in den Top 100 verbleibt Viktorija Golubic (31) als Nummer 90 der Welt. Jil Teichmann (26) muss das Feld nach einem schwierigen Jahr von Rang 130 neu aufrollen. Céline Naef (18/WTA 137) träumt davon, erstmals die 100er-Grenze zu knacken.

Das sagt Günthardt: «Rein vom Ranking her sind wir schon besser dagestanden, da gibt es nichts zu beschönigen. Das Gute aber ist: Mit Golubic (Hauptfeld), Teichmann, Naef und Simona Waltert (23, WTA 166/jeweils in der Quali) sind alle in Melbourne dabei. Und alle haben schon bewiesen, dass sie auf allerhöchstem Niveau bestehen können.»

Was kitzelt Djokovic zu den nächsten Rekord-Taten?

Er steht bei 24 Grand Slams, 407 Wochen als Nummer eins und sieben ATP-Finals-Titeln. Rekordmann Novak Djokovic hat mit drei Major-Siegen im Vorjahr eindrücklich gezeigt, dass noch immer kein Weg an ihm vorbeiführt. 2024 könnte er sein Palmarès mit dem Kalender-Grand-Slam sowie Olympiagold komplettieren.

Das sagt Günthardt: «Was ihn trotz aller Erfolge kitzelt, sind die Emotionen. Grosse Titel vor grossen Kulissen zu gewinnen, ist das Schönste. Das ändert sich auch nach zig Turniersiegen nicht. Ausserdem ist und bleibt er ein Nimmersatt – das gehört zu seinem Erfolgsgeheimnis. Solange er sich körperlich ebenbürtig fühlt, wird er das Mass der Dinge bleiben. Er wirkt noch immer frisch wie in jungen Jahren.»

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Kann Shootingstar Stricker auch auf kleineren Bühnen reüssieren?

Ausgerechnet beim ersten Grand-Slam-Turnier, an dem er nicht den Weg über die Quali gehen müsste, fehlt Dominic Stricker (21). Eine Rückenverletzung verhindert seinen Start an den Australian Open – und stoppt seinen steilen Aufstieg vorerst. 2023 war dem Berner der Durchbruch gelungen, er debütierte auf Grand-Slam-Stufe und schaffte es in die Top 100 (aktuell ATP 90). Nach seinem sensationellen Achtelfinal an den US Open stürmte er in Basel bis in den Viertelfinal. Dazwischen aber tat er sich bei kleineren Challenger-Turnieren sehr schwer – weil «ein, zwei Prozente im Kopf fehlten», wie er zugab.

Das sagt Günthardt: «Lieber so als umgekehrt. Es gibt viele Spieler, die auf kleinen Bühnen super sind, bei grossen Turnieren dann aber verkrampfen. Stricker tickt anders. Er lässt sich gerne vom Publikum tragen. Er spielt derart attraktiv, dass die Fans gewillt sind, ihn zu unterstützen. Das ist gerade zu Beginn einer Laufbahn eine gute Chance. Dass er nun an den Australian Open fehlt, ist bitter. Was mir Sorge bereitet, ist seine Verletzungsanfälligkeit. Auch im Durchbruchsjahr hatte er immer wieder mit Blessuren zu kämpfen. Das ist ein Bremsklotz in seiner Entwicklung. Ich bin überzeugt: Wenn er nach seinem Comeback ein Jahr lang verletzungsfrei durchspielen könnte, würde er nochmals einen riesigen Schritt machen.»

Stürmen die Comeback-Mamis Osaka und Kerber direkt wieder an die Weltspitze?

Während sich Bencic und Petra Kvitova (33) in die Baby-Pause verabschiedet haben, sind mit Naomi Osaka (26) und Angelique Kerber (35) zwei ambitionierte Top-Spielerinnen zurückgekehrt.

Das sagt Günthardt: «Osaka hat das Zeug dazu, rasch wieder zur Weltspitze zu gehören. Ihr Spiel ist äusserst gefährlich – sie gibt ihren Gegnerinnen keinen Rhythmus. Unter Umständen sieht man gegen sie keinen Ball. Heisst: Ist sie erst wieder in Fahrt, dürfte es auch für Iga Swiatek (22) oder Coco Gauff (19) schwierig werden, sie zu bremsen. Bei Kerber ist die Ausgangslage anders: Sie ist älter, weniger aggressiv und kann auch nicht einfach mal so die Kontrahentinnen wegdrücken. Ein kleinerer Titel? Ja. Ein grosser? Fraglich, aber nicht unmöglich.»

Reicht es Nadal noch einmal zu einem (grossen) Titel?

In Brisbane (Viertelfinal) hat Rafael Nadal (37) zunächst ein verheissungsvolles Comeback hingelegt, sich dann aber bereits wieder verletzt für Melbourne abgemeldet. Die vielen Fragezeichen hinter dem 22-fachen Grand-Slam-Sieger sind nicht weniger geworden.

Das sagt Günthardt: «Ist Rafa gesund, kann er jeden Titel holen. Doch ob sein Körper tatsächlich mitmacht, ist schlicht und einfach nicht zu beantworten. In Brisbane hat er sich gut bewegt und tolles Tennis gespielt. Doch dann verletzt er sich beim ersten richtigen sportlichen Test gegen Jordan Thompson (7:5, 6:7, 3:6) bereits wieder. Passiert das beim nächsten Mal auch wieder? Wie viele Anläufe nimmt er noch? Irgendwann wird der Punkt kommen, an dem sich sein Körper verweigert – weil er sich längerfristig schützt. Nadal muss sich nun mit jeder Verletzung fragen, ob sich eine Rückkehr tatsächlich noch lohnt. Ist es der kurzfristige, emotionale Kick auf dem Platz wert? Oder müsste er seinem Körper entgegenkommen für die Zeit nach der Karriere?»

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Geht der Traumlauf von Italiens Hoffnungsträger Sinner weiter?

Peking, Wien, Davis-Cup: Jannik Sinner (22) hat im Herbst eine unheimliche Titelserie hingelegt und damit eine enorme Begeisterung in Italien ausgelöst. Dort ist nun die Hoffnung gross, dass der Südtiroler jener Mann sein könnte, der endlich den ersten Grand-Slam-Titel für Italien seit 1976 (Adriano Panatta in Paris) holt.

Das sagt Günthardt: «Niemand hat das bessere Timing als Sinner. Ihm zuzuschauen, ist schlicht grossartig. Das Duell mit Alcaraz an den US Open 2022, das der Spanier gewann, war etwas vom Besten, das ich je gesehen habe. Sein Grundniveau ist so gut wie jenes der Grand-Slam-Sieger. Für mich ist Sinner noch ein Schritt weiter als Rune. Er ist für Djokovic und Co. enorm gefährlich.»

Spielt Provokateur Kyrgios überhaupt wieder einmal?

Der Mann polarisiert: Die einen mögen Nick Kyrgios (28) für sein spektakuläres Spiel, die anderen sind genervt ob seines rüpelhaften Auftretens auf dem Platz (oder auf Social Media). Fakt ist: Er hat 2023 bloss eine einzige Partie bestritten – beim Rasenturnier in Stuttgart. Verletzungen warfen ihn immer wieder zurück, auch die Australian Open kommen noch zu früh. Obwohl er eigentlich keine Lust mehr habe, werde er noch für «ein, zwei Jahre» weiterspielen, verkündete er kürzlich.

Das sagt Günthardt: «Ein Kyrgios tut dem Tennis gut, zwei wären zu viel. Jeder Fan schaut ihm zu, wenn er spielt. Die einen, weil sie ihn lieben, die anderen, weil sie es lieben, ihn zu hassen. Bei ihm ist es nicht möglich, unparteiisch zu sein. Er berührt die Zuschauer. Und wir können alle nur hoffen, dass er bald zurückkehrt.»


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