Mit 21 wollte er sich umbringen
Jetzt ist Lionel Sanders Topfavorit beim Ironman Hawaii

Mit 20 Jahren entwickelte Lionel Sanders (30) eine Leidenschaft für Alkohol, Kokain und Marihuana. Heute ist der Kanadier ein Profi-Sportler und lässt sein altes Leben hinter sich.
Publiziert: 12.10.2018 um 14:49 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2018 um 10:24 Uhr
Ernst Kindhauser

Er watschelt beim Laufen wie eine Ente, tief das Becken, stakkatoartig die Schritte, humpelnd auf dem linken Bein, als schwänden seine Kräfte. Der Eindruck täuscht: Lionel Sanders (30) ist ein begnadeter Läufer, Kronfavorit für den Hawaii-Titel, kürzlich zum populärsten Ironman gewählt. Stets grenzwertig unterwegs, aber brutal unterhaltend. Ein crazy Canuck, schmerzgeil, getrieben, willensstark, mit einer Vita, die einem Blut in den Adern gefrieren lässt.

Sanders packende Lebensgeschichte

Aufgewachsen in Harrow, Ontario, einem kanadischen Provinzkaff, gerät Sanders mit 20 in der High School auf Abwege. Er tauscht seine bisherige Begeisterung fürs Laufen mit neuen, verführerischen Leiden-Schaften: Alkohol, Kokain, Marihuana. Jahrelang scheint er gefangen in einem selbstzerstörerischen Kreislauf, wie ein Hamster im Rad. Er verliert seine Freundin, unterliegt extremen Gewichtsschwankungen, gerät ins Visier der Ordnungshüter, will aus fahrenden Autos springen. Eine Jugend am Abgrund, in der sich Selbsthass und Besessenheit spiegeln.

Im Winter 2009/2010, Sanders ist 21, erlebt er sein Damaskus. Zu Hause in der Garage. Voller Whiskey und Kokain, einen Gürtel um den Hals, auf einem Stuhl stehend. «Scham und Schuld waren zu gross», sagt er später zum Lokalblatt «Hamilton Spectator», «ich wollte nicht mehr leben.» Doch er widersteht der Versuchung, seinen Dämonen final zu entfliehen, aus Liebe zu seiner Mutter. «Nie mehr hätte sie ein normales Leben führen können.»

Lionel Sanders (30) zu Hause in Hamilton/Ontario bei einem seiner seltenen Outdoor-Läufe.
Foto: Instagram
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Sanders steigt vom Stuhl und wird Triathlet. Mutiert vom Drogenjunkie zum Ironman, dem faszinierendsten zurzeit. Wer ihn trifft, erlebt einen höflichen, respektvollen, fast scheuen Athleten. Wer seine kultigen Youtube-Videos verfolgt, erkennt den Maverick, der ewig keine Grenzen kennt. Seine Interviews rocken wie weiland Led Zeppelin. Sanders schwimmt gegen den Strom, bleibt dabei stets authentisch, das erklärt einen Grossteil seiner Popularität.

«Ich bin ein Stubenhocker, aber nicht im negativen Sinn»

Seine Trainings absolviert er mehrheitlich im eigenen Heim in Hamilton/Ontario, wo er mit Partnerin Erin lebt. «Ich bin ein Stubenhocker, aber nicht im negativen Sinn», sagt er im Magazin «Triathlon». «Ich liebe es, in der Nähe meiner Familie zu sein.» Am Ursprung seiner Home-Trainings steht jedoch die Angst, die jeden Triathleten umtreibt – von Autos angefahren zu werden. Sanders hat genug von potenziellen Totfahrern, die ihr Auto «dazu benutzen, ihre Sicht der Dinge auszudrücken».

Seine Indoor-Videos zeigen einen Malocher, der unfassbar hart für seine Ziele fightet. Seine Schwimmschwäche bekämpft er im eigenen Gegenstrom-Pool. In einem Raum, den er «Pain Zone» (Ort der Schmerzen) nennt, fährt er Rad. Stundenlang. Schweisstriefend. Martialisch «come on» brüllend. Auf dem Laufband rennt er, um Verletzungen vorzubeugen. Und oft mit dem Bild des schlimmsten Karrieremoments vor Augen – als ihn Patrick Lange auf Hawaii 2017 kurz vor dem Ziel überholt.

Wo ein Wille, ist Sanders

Sanders gesteht, dass ihn Ironman magisch anzog, weil er eine Sucht durch eine andere ersetzen konnte. «Meine dunklen Jahre haben mich zu Beginn mächtig motiviert.» Heute, nach fünf Jahren als Profi, sagt er, philosophisch angehaucht, in «Triathlon»: «Ironman geht weiter als Schwimmen, Radfahren und Laufen. Ironman ist der Ausdruck tieferer Dinge in mir. Es geht darum, wie man sich motiviert, wenn es im Leben hart wird.»

Er bleibt aber ein Getriebener, dessen Konsequenz Nicht-Triathleten wohl abschreckt oder deren Vorurteile bestätigt. Anfang Jahr stellt er seine Ernährung radikal um und
verzichtet auf Kohlenhydrate. Geht gründlich schief. Im August beendet er den Halbironman vom Mont Tremblant gehend. «Offengestanden habe ich eine Essstörung entwickelt. Ich war besessen davon, dünn und leicht zu werden.»

Sanders geht in sich, ernährt sich nun wie früher. Er verlässt sein geliebtes Heim, trainiert vier Wochen lang auf Big Island. Draussen. Im Kona Aquatic Center. Auf dem Queen K Highway. Im Energy Lab. Auch mental hat er dazugelernt: «Meine brutale Power ist ein Asset, aber der Schlüssel im Ironman ist Coolness und Effektivität.» On verra. Morgen Samstag ist D-Day, die Hawaii-Krone das Ziel.

Der Kanadier geht, wo ein Wille ist, seinen Weg. Dann kommt alles Sanders.

Hier findest du Hilfe

• Die Dargebotene Hand, Telefon 143 und Onlineberatung, Schweigepflicht; anonym und kostenlos, www.143.ch
• Klartext (Anlaufstelle für Fragen rund um den Suizid): erstes Beratungsgespräch kostenlos; 079 450 91 68
• Hausarzt oder Psychiater

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