Ukraine trotz Krieg im EM-Fieber
«Der Fussball lenkt uns ab vom täglichen Horror»

Blick hat sich bei Ukrainerinnen und Ukrainern im Kriegsland umgehört. Welche Wirkung hat der Fussball für die Menschen mitten im Krieg? Und welche Chance räumen sie ihren Rasen-Helden ein? Die Antworten überraschen.
Publiziert: 17.06.2024 um 11:08 Uhr
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Aktualisiert: 17.06.2024 um 12:29 Uhr
Samuel Schumacher und Yevhen Semekhin

Während die ukrainischen Truppen an der heimischen Front weiterkämpfen, spielen die besten Fussballer des kriegsgeschundenen Landes an der Endrunde der EM mit. Was löst das Fussballfest bei den Ukrainern zu Hause für Emotionen aus? Kann der Fussball ein bisschen Freude in den brutalen Kriegsalltag bringen? Und: Wie schätzen Ukrainerinnen und Ukrainer die Chancen ihres Teams ein? Blick hat sich umgehört.

Vladiyslav Vashchuk (49), ehemaliger Spieler bei Dynamo Kiew und Ex-Nati-Spieler der Ukraine

«2008 habe ich als Nationalspieler mit unserem Team bei der Weltmeisterschaft den Viertelfinal erreicht. Unsere heutigen Spieler sind top motiviert – umso mehr, weil sie wissen, dass sie für ein kriegsgeplagtes Volk spielen. Fussball hat die Kraft, uns weiter zu einen. Es ist wichtig für uns, dass wir Siege feiern können. Umso eindrücklicher wäre ein gutes Abschneiden, wenn man sich anschaut, wie sehr der ukrainische Fussball unter dem Krieg gelitten hat: keine nationalen Meisterschaften, Spielunterbrüche wegen Raketenalarm, kaum Zuschauer. Aber die Russen können uns nicht stoppen. Ich werde die Spiele definitiv schauen. Sie helfen uns allen, mit dem Stress und all den schlimmen Nachrichten besser umgehen zu können. Sie sind eine gute Ablenkung vom täglichen Horror.»

Hryhoriy Pivovarov (43), Kommandant im Aidar-Bataillon und ehemaliger Fussball-Ultra

Alle ukrainischen Augen sind auf sie gerichtet: Legt das Nationalteam an der EM einen guten Auftritt hin, könnte das dem kriegsgeschundenen Land einen regelrechten Boost geben.
Foto: keystone-sda.ch

«Ich habe kaum Zeit, neben unseren ständigen Front-Einsätzen in der Nähe von Bachmut Fussball zu schauen. Wenn es der Krieg zulässt, werde ich ab und an ein Spiel schauen, aber nicht wirklich mitfiebern. Wenn das ukrainische Team gewinnt, ist das natürlich ein Hoffnungsschimmer. Sollten wir Europameister werden, würde ich ausflippen – und mich dabei wohl verletzen. Ob wir das wirklich schaffen? Wohl kaum.»

Olena Babykina (41), Kommunikationschefin beim Glücksspielanbieter Cosmolot

«Ich habe leider keine Zeit für Fussball oder sonstige Unterhaltung. Seit mehr als einem Jahr widme ich meine ganze Freizeit dem Projekt Brave Innovators, das militärische Innovation und Erfindungen fördert. Das ist jetzt wichtiger als Sportresultate. Und selbst wenn die Ukraine Europameister wird, hilft uns das nicht, diesen Krieg zu gewinnen. Wenn unsere Mannschaft so gut spielt, dass Europa an unser Land und unser Schicksal erinnert wird, dann wäre das das bestmögliche Resultat.»

Dmytro Rzhondkovskyi (35), Trainer der ukrainischen Fussball-Nati der Amputierten

«Fussball ist wichtig für uns. Wir organisieren spezielle Trainings für Soldaten, die ihre Gliedmassen im Krieg verloren haben. Das hilft, das schwere Schicksal zu akzeptieren. Deshalb: Natürlich werde ich die Spiele mitverfolgen und mitfiebern! Ich bin mir sicher, dass unsere Nati mindestens den Halbfinal erreichen wird.»

Philip Alyid (32), Projektverantwortlicher bei der NGO Action Office in Kiew

Philip Alyid (32), Projektverantwortlicher bei der NGO Action Office in Kiew.

«Mit all den Stromausfällen und Raketenangriffen die ganze Zeit ist völlig unklar, ob wir die EM-Spiele unseres Teams wirklich in Frieden verfolgen können. Aber: Ich werde es definitiv versuchen. Wir schaffen es sicher mindestens in den Viertelfinal. Fussball ist Fussball, nicht mehr und nicht weniger. Es wird uns nicht helfen, die Russen zu besiegen.»

Valery Shershen (39), Sportjournalist und Offizier in der Logistik-Abteilung der ukrainischen Armee

«Die EM 2012 in der Ukraine und in Polen hat uns als Land einst geeint. Auch jetzt hat der Fussball diese unbändige Kraft. Fairplay würde ich mir aber nicht nur auf dem Rasen wünschen, sondern auch im sonstigen Leben, besonders von unseren russischen Nachbarn. Ich werde kaum Zeit haben, Fussball zu schauen. Aber die Resultate werde ich natürlich mitverfolgen – und ganz fest hoffen, dass wir es in den Final schaffen. Ich arbeitete vor dem Krieg eng mit Dynamo Kiew zusammen und werde nach dem Krieg dafür sorgen, dass der Fussball wieder Fuss fassen kann in den aktuell zerstörten Gebieten der Ukraine.»

Alina Semehina (29), Sängerin und frischgebackene Mutter von Baby Nina

«Seit der Geburt meiner Tochter habe ich weniger Zeit und Energie. Und ich bin eh kein wahnsinniger Fussballfan. Wenn mein Mann einen Match schauen will, dann schaue ich natürlich mit. Und natürlich unterstütze ich unser Team. Ich fiebere bei allem mit, was der Ukraine irgendwie dienen kann! Wie weit wir es schaffen? Schauen wir mal. Die Ukraine ist immer gut für eine Überraschung.»

Heorhiy Mazurashu (53), ukrainischer Parlamentarier und Vorsitzender des Komitees für Breitensport

«Es ist doch schon ein Erfolg, dass es unser Team überhaupt in die Endrunde geschafft hat. Wer weiss, was noch möglich sein wird. Immerhin ist unser Stürmerstar Artem Dowbyk aktueller Topskorer in der spanischen Liga! Der Erfolg unseres Teams ist eine grosse Motivation für uns alle, besonders für unsere Kämpfer an der Front. Sport – und insbesondere Fussball – hat die Kraft, uns in diesem verfluchten Krieg positive Gefühle und Mut zu geben.»

Ihor Hulay (32), Rektor einer zerstörten Schule in Donezk

«Ich habe mich nie für Fussball interessiert. Das ändert sich jetzt auch nicht. Ich habe keine Zeit dafür, wegen des tobenden Kriegs. Was bringt uns diese EM? Der Fussball beendet weder den Krieg, noch reduziert er die Korruption im Land.»

Vladyslav Samoilenko (34), Chef der Hurkit-Stiftung

«Fussball kann was bewegen, insbesondere, wenn unsere Jungs gut abschneiden und Spiele gewinnen. Ich bin gespannt, ob es am Rand der Spiele zu besonderen Aktionen zu Ehren unserer gefallenen Helden kommen wird. Dass die Ukraine in der Endrunde mitspielt, führt hoffentlich dazu, dass die Welt uns nicht vergisst und sich daran erinnert, unter welch schwierigen Umständen wir hier leben. Ob sie es über die Gruppenphase hinaus schaffen, spielt keine Rolle. Helden sind sie sowieso.»

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