Ärzte-Präsidentin Yvonne Gilli warnt vor Lücke in der Gesundheitsversorgung
«Es zeichnet sich ein Drama ab»

FMH-Chefin Yvonne Gilli fordert mehr Studienplätze für angehende Mediziner und Medizinerinnen. Auch, weil Ärztemangel die Gesundheitskosten erhöhen kann.
Publiziert: 15.10.2023 um 00:56 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2023 um 09:08 Uhr
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Peter AeschlimannRedaktor

SonntagsBlick: Frau Gilli, in einem Satz: Woran krankt das Gesundheitswesen?
Yvonne Gilli: Daran, dass wir zu viel über die Kosten reden – und zu wenig über den Nutzen. 

Auf Pfarrer und Ärztinnen hören die Leute. Sprechen Sie ein Machtwort!
Sie haben in Ihrer Aufzählung die Lehrer vergessen. Das zeigt: Es ist nie nur eine Berufsgruppe, die darüber entscheidet, wie wir die Probleme angehen.

Ein Problem ist die Verteilung: In den Städten gibt es eine grosse Dichte an Spezialärztinnen, in den Bergregionen fehlen Hausärzte. Warum?
Spezialärztinnen praktizieren nun einmal in grossen Kliniken. Und die befinden sich in den Städten. Dort ist die Infrastruktur vorhanden, die sie benötigen.

FMH-Präsidentin Yvonne Gilli stört sich daran, dass derzeit hauptsächlich über die Kosten im Gesundheitswesen gesprochen wird.
Foto: Linda Käsbohrer
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Ein Grund für den Hausärztemangel dürfte auch sein, dass man als Spezialist viel mehr verdient.
Das ist ein Mythos. Vier von zehn Ärztinnen und Ärzten, die sich in Weiterbildung befinden, wollen in die Grundversorgung, also Hausarzt oder Kinderärztin werden. Dieser Wert hat sich in den letzten Jahren nicht verändert. Der Grund, weshalb wir zu wenige Hausärztinnen und Hausärzte haben, sind nicht tiefere Löhne. Es ist vielmehr die veraltete Tarifstruktur Tarmed. Seit 2004 wurde sie nie mehr angepasst. Es fehlt darin etwa ein Hausarztkapitel. Darum sind die Grundversorger dringend auf den neuen Tarif Tardoc angewiesen, der ihre Arbeit zeitgemäss abbildet.

Können neue Tarife das Kostenwachstum dämpfen?
Die Bedingung des Bundesrats lautet, dass die Systemänderung kostenneutral vollzogen werden muss. Es darf also nicht teurer werden. Die Prämien finanzieren ein Drittel der Kosten. Und alle, ob sie nun Millionärinnen sind oder Fabrikarbeiter, zahlen genau gleich viel. Darüber müssen wir doch diskutieren: dass Alleinerziehende oder mittelständische Familien, die keine Prämienverbilligungen beziehen können, übermässig belastet werden.

Die neuen Tarife sorgen also bloss für Umverteilung? Sollte es nicht darum gehen, den Kuchen zu verkleinern?
Wir leben in einem privilegierten Land, das sich teure Behandlungen leistet. Ich möchte, dass wir auch in Zukunft bereit sind, das zu finanzieren. Nochmals: Lassen Sie uns endlich über den Nutzen sprechen! Gesunde Menschen bleiben arbeitsfähig, sie sind für ihre Kinder da. Das ist auch ein volkswirtschaftlicher Gewinn. Ich bleibe dabei: Man kann das Problem nicht lösen, indem man die Kosten begrenzt und Leistungen kürzt oder ganz streicht.

Genau das fordern aber bürgerliche Parteien.
Diese Diskussion will ich in der Schweiz nicht führen müssen. Wir haben eines der besten Gesundheitssysteme. Anderswo muss man als betagter Mensch mit Knieproblemen monatelang auf ein MRI warten. Das sind Schmerzen, sie belasten psychisch und schränken die Lebensqualität ein. Wichtig ist, dass jene Haushalte bei den Prämien entlastet werden, die übermässig viel bezahlen müssen.

Höre ich da Sympathien für die SP-Initiative heraus, die verlangt, dass maximal zehn Prozent des Familieneinkommens für Prämien aufgewendet werden sollen?
Ich äussere mich hier als FMH-Präsidentin. Für uns steht die Qualität der Gesundheitsversorgung im Fokus. Dass es einen Ausgleich für Haushalte braucht, die zu stark belastet werden, ist für uns unbestritten. Wir unterstützten den indirekten Gegenvorschlag zur SP-Initiative, sind aber offen für unterschiedliche Lösungen. Es darf nicht passieren, dass Patienten auf wichtige Leistungen verzichten – aus Angst, diese nicht bezahlen zu können.

Kommen solche Fälle in Ihrem Praxisalltag vor?
Ich erlebe das bei der Betreuung von Schwangeren. Obwohl diese Behandlung inzwischen von der Franchise befreit ist, kommen manche Frauen erst sehr spät zur ersten Kontrolle. Sie fürchten sich vor einer Rechnung. Auch betagte Menschen sind oft sehr kostenbewusst. Eine Frau, die an schwerem Brechdurchfall litt, meldete sich erst kurz vor dem Verdursten in der Praxis. Das gibt mir schon zu denken.

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Wir haben in der Vergangenheit viel zu wenige Ärztinnen und Ärzte ausgebildet
Yvonne Gilli, FMH-Chefin
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Zahlen zeigen, dass jeder vierte Arzt über 60 ist. Was geschieht da gerade?
Es zeichnet sich ein Drama ab. Die Babyboomer kommen ins Pensionsalter. Uns droht eine Lücke in der Gesundheitsversorgung. Wir haben in der Vergangenheit viel zu wenige Ärztinnen und Ärzte ausgebildet. Wenn wir uns jetzt entscheiden, deutlich mehr auszubilden, dauert es trotzdem nochmals zehn Jahre, bis diese Leute tatsächlich ihren Beruf ausüben können. Unser Ziel muss deshalb sein, die Lücke so klein wie möglich zu halten.

Wie kann das gelingen?
Erstens: Ärztinnen und Ärzte, die ins Pensionsalter kommen, können länger arbeiten. Viele sind hoch motiviert, bis 71 oder 72 weiterzuarbeiten, der Arztberuf ist ihre Berufung. Wenn die Rahmenbedingungen aber weiter verschlechtert werden, werden sie diesen Schritt nicht machen. Zweitens müssen wir die Zahl der Studienplätze deutlich erhöhen. Tun wir das nicht, akzentuiert sich der Hausärztemangel nochmals. Und drittens brauchen wir zeitgemässe Arbeitsbedingungen für jüngere Ärztinnen und Ärzte. Deren Forderung ist äusserst moderat: eine 46-Stunden-Woche.

Zum Leistungskatalog: Alternativmedizin hat in der Grundversicherung nichts verloren, richtig?
Das ist ein alter Vorschlag, den die Versicherer immer wieder machen. Dabei ist doch klar: Die Versicherer möchten diese Leistung in Zusatzversicherungen anbieten – als Geschäftsmodell! Natürlich ist das ein legitimes Interesse. Es ändert aber nichts daran, dass die Bevölkerung ganz anders denkt. Die Nachfrage nach Komplementärmedizin ist gross.

Umso kleiner ist die wissenschaftliche Evidenz. Dass homöopathische Kügelchen wirken, ist weiterhin unbewiesen.
Es gibt seriöse Studien, die zu einem gegenteiligen Schluss kommen. Wo ich Ihnen recht gebe: Wir hätten gern mehr Forschung, mehr Daten. Dafür setzt sich die FMH grundsätzlich ein. Das gilt für alle Fachrichtungen, auch für die Komplementärmedizin.

Diese Daten könnte zum Beispiel das Elektronische Patientendossier (EPD) liefern. Weshalb sträubt sich die Ärzteschaft so vehement dagegen?
Wir brauchen eine nutzbringende Digitalisierung. Das EPD ist ein Produkt, das sich nicht dazu eignet, Daten sinnvoll zu verwenden. In seiner jetzigen Ausgestaltung ist es eine PDF-Bibliothek: Medikationspläne, Arztberichte, Laborresultate – ein Durcheinander. Um das EPD effizient zu nutzen, benötigt es Standards und strukturierte Informationen, die alle verstehen.

Ein funktionierendes EPD würde helfen, die Kosten zu senken.
Das ist ein Versprechen, das in keinem Land eingelöst wurde. Aber es könnte den administrativen Aufwand der Ärztinnen und Ärzte senken. Bis zu zwei Drittel ihrer Zeit im Spital verbringen Mediziner mit Tätigkeiten, die Patienten keinen direkten Nutzen bringen. Es herrscht Fachkräftemangel – da können wir es uns doch nicht leisten, dass wir mehr Zeit mit Büroarbeiten verbringen als am Spitalbett.

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