Aus Angst vor Corona-Verarmung kann Sexarbeiterin keine Wünsche ausschlagen
«Die Männer verlangen Sex ohne Kondom und viel krassere Sachen»

Die Pandemie hat das horizontale Gewerbe verändert. Viele leben dort in prekären Verhältnissen. Die Situation ist gravierend, wie eine Sexarbeiterin erzählt.
Publiziert: 01.02.2021 um 17:24 Uhr
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Aktualisiert: 18.02.2021 um 11:49 Uhr

Nicole lebt in einer Drei-Zimmer-Wohnung in der Ostschweiz. Die 50-Jährige Österreicherin ist diplomierte Masseurin - und Sexarbeiterin. Vor der Pandemie war sie mit sich im Reinen: Sie hat als Selbständige gut verdient und wollte noch ein paar Jahre im Milieu verbringen, um danach im Alter zu reisen.

Jetzt steht sie stattdessen vor dem Ruin. Die unbezahlten Rechnungen stapeln sich. «Ich kann keine Nacht mehr schlafen», sagt sie zum «St. Galler Tagblatt». «Wer in diesen Zeiten an Selbstmord denkt, den kann ich verstehen.»

Nicole hat bisher nie Schulden gemacht. Sie musste sich auch nie auf krumme Geschäfte einlassen. Ihre Kunden fand sie in Zeitungsinseraten, versprach einen «vollen Service mit Happy End». Sex, Schmusen, Französisch, Türkisch mit Maske.

Das Geschäft mit der Nähe hat sich radikal verändert.
Foto: EQ Images
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«Wie viel ist mir mein Leben wert?»

Die Pandemie hat ihr Business nun auf den Kopf gestellt. Die Angst vor einer Ansteckung hält Männer fern. Bei Nicole macht sich deshalb die Angst vor der Verarmung breit. Mittags isst sie nichts anderes als Hafersuppe.

Bis zu zehn Kunden am Tag hatte sie vor der Coronakrise. Verheiratete, Junggesellen, Geschäftsmänner, erzählt sie. Heute ist sie froh, wenn nur ein einziger kommt. «Wenn meine Kunden die Maske sehen, drehen sie oft gleich wieder um.»

Sie sieht sich gezwungen, auf immer krassere Sachen einzugehen, um überhaupt etwas essen zu können. «Die Männer verlangen Sex ohne Kondom und viel, viel krassere Sachen – es ist unglaublich», sagt Nicole. «Ich muss mich jedes Mal fragen: Wie viel ist mir mein Leben wert?» Einen anderen Job findet sie in ihrem Alter nicht mehr, ist sie überzeugt. «Wie lange ich weiterhin Nein sagen kann, weiss ich nicht.»

Hohe Dunkelziffer

Die Österreicherin ist mit ihrem Schicksal nicht alleine. Bei der kantonalen Beratungsstelle melden sich immer mehr Betroffene, die am Rand ihrer Existenz stehen. Die Zahl hat sich innert Kürze verdoppelt. «Aber es melden sich längst nicht alle», sagt Margot Vogelsanger von der Beratungsstelle. «Die meisten haben viel zu viel Angst. Um die machen wir uns am meisten Sorgen.»

Hier findest du Hilfe

• Die Dargebotene Hand, Telefon 143 und Onlineberatung, Schweigepflicht; anonym und kostenlos, www.143.ch
• Klartext (Anlaufstelle für Fragen rund um den Suizid): erstes Beratungsgespräch kostenlos; 079 450 91 68
• Hausarzt oder Psychiater

• Die Dargebotene Hand, Telefon 143 und Onlineberatung, Schweigepflicht; anonym und kostenlos, www.143.ch
• Klartext (Anlaufstelle für Fragen rund um den Suizid): erstes Beratungsgespräch kostenlos; 079 450 91 68
• Hausarzt oder Psychiater

Ein Grossteil der Menschen seien Sans-Papiers oder Saisonniers, die sich nur 90 Tage zur Arbeit in der Schweiz aufhalten dürfen: «Ihre Lage ist am prekärsten. Sie haben keinen festen Wohnsitz und sind normalerweise hier, um ihre Familien zu Hause zu finanzieren – so hängen gleich mehrere Menschenleben von ihrem Einkommen ab», sagt Vogelsanger.

Auch Nicole fürchtet die behördliche Retourkutsche. «Wer sagt mir, dass meine Bewilligung hier dann wirklich verlängert wird?», fragt die Sexarbeiterin. (ise)

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