Aussagen des Schweizer Ökonomen Reiner Eichenberger im Faktencheck
Sind Einkaufstouristen wirklich Helden?

Der streitlustige Ökonom Reiner Eichenberger kürt Einkaufstouristen kurzerhand zu «Helden». Stimmts? Blick nimmt die Aussagen mit einer Expertin für Einkaufstourismus unter die Lupe.
Publiziert: 08.10.2021 um 19:30 Uhr
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Aktualisiert: 09.10.2021 um 09:44 Uhr
Sarah Frattaroli

Kreuzlingen TG, Basel und Schaffhausen singen alle dasselbe Klagelied: Der Einkaufstourismus untergräbt ihre lokale Wirtschaft. Das Lädelisterben ist in den Schweizer Grenzstädten besonders frappant. Der Schweizer Detailhandelsverband hat unlängst gar eine Kampagne unter dem Motto «Shopp Schwiiz! Hier lebe ich, hier kaufe ich» gegen den Einkaufstourismus gestartet.

Da überrascht diese Aussage von einem Schweizer Ökonomen: «Einkaufstouristen sind Helden.» Sie stammt von Reiner Eichenberger (60), Professor an der Universität Freiburg, wo er zur Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik forscht und lehrt. In einer Kolumne in der «Handelszeitung» schreibt Eichenberger: «Einkaufstourismus ist eine Form von Freihandel. Das ärgert zwar die Schweizer Detailhändler. Aber der Schweizer Wirtschaft insgesamt nützt es.»

Einkaufstourismus senkt Frankenkurs

Eichenberger führt vier Argumente an: Erstens sparen die Konsumenten Geld, wenn sie ihre Einkäufe billiger im Ausland erledigen. Dieses Geld können sie dann stattdessen in der Schweiz ausgeben. Zweitens senke Einkaufstourismus den Kurs des Schweizer Frankens, was wiederum die Schweizer Exportwirtschaft stärke. Drittens senke Einkaufstourismus die Lebenshaltungskosten in der Schweiz und steigere so den realen Wert der Löhne. Viertens übten Einkaufstouristen Druck auf Produzenten und Detailhändler aus, die Preise in der Schweiz zu senken.

Für Ökonom Reiner Eichenberger sind Einkaufstouristen Helden, wie er in einer Kolumne in der «Handelszeitung» schreibt.
Foto: Daniel Kellenberger
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Reiner Eichenbergers Argumentarium steht quer in der Landschaft. Herrscht in der Schweiz doch breiter Konsens, dass Einkaufstourismus der hiesigen Wirtschaft schadet. So hat der Ständerat erst letzten Monat mehrere Vorstösse angenommen, die Einkaufstouristen in die Schranken weisen sollen. Er zielt dabei auf die 300-Franken-Freigrenze. Der Konsens reicht weit ins bürgerliche Lager hinein. Wie also sind Eichenbergers Aussagen zu verstehen? Haben wir den Einkaufstourismus jahrelang falsch betrachtet?

Expertin zerpflückt Eichenbergers Argumente

Blick unterzieht Eichenbergers Aussagen gemeinsam mit Tiziana Hunziker (31) einem Faktencheck. Sie ist Detailhandelsexpertin bei der Credit Suisse. «Ich sehe das kritisch», stellt Hunziker klar. «Wir schätzen den Einkaufstourismus in einem normalen Jahr auf rund acht Milliarden Franken.» Der Preisunterschied zwischen der Schweiz und dem Ausland beträgt dabei laut Schätzungen der Credit Suisse rund 50 Prozent. Will heissen: Einkaufstouristen sparen jährlich vier Milliarden Franken.

Gemäss Eichenbergers Logik geben die Einkaufstouristen dieses gesparte Geld sodann in der Schweiz aus. «Ein Teil davon wird aber angespart oder trotzdem im Ausland ausgegeben», hält Hunziker dagegen. Und: «Wer in Konstanz oder Lörrach einkaufen geht, verbringt oft den ganzen Tag dort, isst etwas, tankt sein Auto voll.»

Und selbst wer das gesparte Geld nicht direkt auf dem Ausflug im grenznahen Ausland liegen lässt, wird es nicht zwangsläufig in die Schweizer Wirtschaft einspeisen: Es bleibt auf dem Konto liegen, wird im (ausländischen) Online-Handel ausgegeben oder geht für die nächsten (Ausland-)Ferien drauf.

Aber auch wenn die Ersparnisse durch den Einkaufstourismus vollständig in die Schweizer Wirtschaft zurückfliessen würden: «Vier Milliarden sind ein Bruchteil des gesamten Privatkonsums, das macht höchstens ein Prozent aus», ergänzt Hunziker. Dass diese Mehrausgaben einen messbaren Einfluss auf die Schweizer Gesamtwirtschaft hätten, hält sie für unwahrscheinlich.

Ohne Einkaufstourismus gäbe es Zehntausende neue Jobs

Auch den Einfluss des Einkaufstourismus auf den Frankenkurs schätzt Hunziker geringer ein. «Theoretisch stimmt die Argumentation schon. Aber globale Phänomene spielen eine viel grössere Rolle. Zum Beispiel, dass sich Investoren in Krisenzeiten in ‹sichere Häfen› flüchten. Und dazu zählt eben auch der Schweizer Franken.»

Bleibt Eichenbergers letzte Waffe, wonach Einkaufstourismus zu Preisstürzen in den Schweizer Läden führe. Hunziker zieht die Statistik der letzten Jahre heran. «Die Preise im Lebensmittelbereich haben sich in den letzten Jahren in der Tendenz seitwärts bewegt. Man sieht in diesem Bereich also keinen Effekt.» Im Bereich der Nicht-Lebensmittel, insbesondere bei Elektronikprodukten, ist es hingegen tatsächlich zu einem Preisrückgang gekommen. «Das hat aber mehr mit tieferen Produktionskosten und der Online-Konkurrenz zu tun als mit dem klassischen Einkaufstourismus», schränkt Hunziker ein.

Eichenbergers Argumente sind nicht falsch. Nur ist ihr Einfluss auf die Realwirtschaft gering. Geringer zumindest, als würde man den Einkaufstourismus komplett unterbinden. «Wenn die acht Milliarden Franken stattdessen in der Schweiz ausgegeben würden, könnte der Detailhandel um fast einen Zehntel wachsen», rechnet Hunziker vor. «Das würde sich sicherlich positiv auf die Anzahl Beschäftigte im Detailhandel auswirken.»

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