Bahnchefs und Bund streiten
Soll es ein grosses Schweizer S-Bahn-Netz geben?

Die Schweizer Bahn der Zukunft wird Milliarden von Franken kosten. Welche Projekte sollen realisiert werden? Bahnchefs sowie Bund und Kantone kämpfen um einen gemeinsamen Nenner.
Publiziert: 05.07.2024 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.07.2024 um 12:18 Uhr
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Andreas Valda und Bernhard Fischer
Handelszeitung

Übervolle Züge, Verspätungen, verpasste Anschlüsse, Busersatzverkehr anstelle von gesperrten Strecken wegen Neubauten: Die Mängelliste ist lang. Fahrgäste beklagen sich zunehmend darüber, dass es bei den Bahnen nicht rund läuft.

Die Bundesbahnen ihrerseits beklagen sich seit Monaten wegen «zu wenig Luft im Fahrplan» und wegen Zeitmangels für den geregelten Unterhalt von Schienen. Die letzten grossen Investitionen, die Kapazitäten freigespielt haben, wurden vor neun Jahren fertiggestellt: der Zürcher Durchgangsbahnhof und der Gotthard-Basistunnel. 

Einzelne Ausbauten reichen allerdings nicht, um das Bahnsystem auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Unter dem Titel «Bahn 2000» wurde einst ein Angebot geschaffen, das mit der heutigen Nachfrage nicht mehr mithalten kann. Seither wurden zwar mehrere Milliarden Franken für Bahnausbauten vom Parlament bewilligt. Das Geld kommt aus dem Bahninfrastrukturfonds (BIF).

Dichtestress auf Schienen: Unter Bahnvertretern, Expertinnen und dem Bund ist ein Streit darüber entbrannt, wie es mit milliardenschweren Bahnprojekten weitergehen soll.
Foto: Keystone
Artikel aus der «Handelszeitung»

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Unter dem Titel «Bahn 2035» werden Tunnels, Brücken, Überholspuren, Bahnhöfe und Haltestellen geplant – für insgesamt 18 Milliarden Franken. Die Beschlüsse dazu fielen 2019 sowie im März dieses Jahres. 

Lange Laufzeiten, hohe Kosten

Doch bis diese Ausbauten in Betrieb gehen, darunter der Lötschbergtunnel auf zwei Spuren, werden 10 bis 15 Jahre vergehen. Im März beschloss das Parlament zudem das Grobkonzept «Bahn 2050». Zwei weitere, milliardenschwere Finanzpakete werden dafür auf den Weg gebracht.

Das Parlament erwartet 2026 von Verkehrsminister Albert Rösti eine Liste der Projekte für das neue Netz zur Jahrhundertmitte. Die Finanzbeschlüsse sollen 2027 und 2031 fallen. Die Rede ist von Investitionen bis zu 30 Milliarden Franken bis 2050.

Welche Projekte dieser zukünftigen «Bahn 2050» zum Zug kommen sollen, darum wird derzeit gerungen.

Dazu muss man Folgendes verstehen: Die Schweizer Schienenversorgung soll eine einzige grosse S-Bahn werden. Das heisst mehr Haltestellen, mehr Sitzplätze, mehr Kapazität, mehr behindertenfreundliche Haltestellen. Und das bei schnellen, pünktlichen Zügen in hoher Frequenz, nicht selten im Viertelstundentakt, fast flächendeckend. Gleichzeitig rollt auch noch der Güterverkehr.

All das unter einen Hut zu bringen, klingt ambitiös. Unter Bahnvertretern, Expertinnen und dem Bund ist nun ein Streit darüber entbrannt, wie es weitergehen soll. Insbesondere das Bundesamt für Verkehr, die Kantone und die Bahnbetreiber sind sich uneinig. Die Kantone bestellen je nach Kapazitätsbedarf, der Bund plant und bezahlt dafür, die Bahnen führen aus.

In dieser Rolle warnen die SBB nun schon seit Jahren vor einem andauernden Rückstand beim Schienenunterhalt. Bereits Ex-SBB-Chef Andreas Meyer brachte das Thema 2015 aufs Tapet. Seit 2020 ist Vincent Ducrot Chef des Bundesbetriebs. Dieser sagte vor zwei Wochen zur «Handelszeitung»: «Wir haben immer noch einen grossen Rückstand beim Unterhalt, den wir aufholen müssen.» Die aufgelaufenen Kosten: 8 Milliarden Franken.

Vom Geldmangel betroffen sein werden laut Ducrot auch künftige Ausbauten. «Weitere Wünsche, die noch nicht beschlossene Projekte betreffen, sind bis 2033 nicht realisierbar», sagte er kürzlich gegenüber der NZZ. Damit zielt er auf die Beschlüsse des Parlaments vom März ab. Die Debatte ist am Köcheln.

Die Debatte kocht hoch

Vor einem Monat heizte Bahnexperte Benedikt Weibel weiter ein. Er war SBB-Chef bis 2006. Nun regt er gar ein Planungsmoratorium für bewilligte Projekte an: «Weil sie zu einem nicht mehr zu finanzierenden Bahnsystem führen.» Stattdessen schlägt er vor, mehr Kapazität aus dem Bestehenden herauszuholen.

Dies erreiche man mit einem Potpourri von Massnahmen, so Weibel: den Güterverkehr von der Schiene auf die Strasse verlagern, Zuggeschwindigkeiten harmonisieren, die Züge schneller in Bahnhöfe einfahren lassen, die Sitzplatzzahl pro Zug erhöhen und IT-gelenkte Passagierströme.

Weibels Handicap: Als früherer SBB-Chef hat er etliches mitzuverantworten, woran die SBB heute nagen. Er hat zum Beispiel den Unterhalt nicht beschleunigt. Und er war es, der die Neigezugtechnik einführen wollte. Eine verhängnisvolle Technik, wie sich herausstellte; sie funktionierte schlicht nicht, das haben Testfahrten gezeigt. Also zogen die SBB der Neigetechnik vor zwei Jahren den Stecker. Alle in Aussicht gestellten Fahrzeitverbesserungen wurden zur Makulatur. 

Die Folge: Die milliardenschwere Ausbauplanung von 2018, die auf dem Fahrplan der Neigezüge aufgebaut war, fiel in sich zusammen. Der Plan für die «Bahn 2035» war für die Katz. Der Bund und die Kantone müssten jetzt auslöffeln, was Weibel ihnen eingebrockt habe, kritisieren Experten. Aus der «Bahn 2035» wird mit verzögerten Projekten über mehrere Jahre eine «Bahn 2037/40». 

Es drohen Fahrzeitverluste

Einen glaubwürdigeren Zugang zur SBB als Weibel hat der Chef der Südostbahn (SOB), Thomas Küchler. Die Privatbahn hat einen guten Ruf. Küchler sagt, die Absicht des Bundes bis 2050, die Taktfahrzeiten zu halbieren, sei «auf vielen Strecken illusorisch». 

Die Hauptgründe: Neue Vorschriften für die Signaltechnik und behindertengerechtes Umsteigen haben zu Verzögerungen im Taktfahrplan geführt. Die Folge seien Fahrzeitverluste von bis zu neun Minuten, sagt Küchler: «Das Konzept der Bahn 2035 bis 2040 ist mit den bislang beschlossenen Ausbauten nicht umsetzbar.»

Der Bund hat die Kritik verstanden und will die Probleme korrigieren. Beim Angebot soll es möglichst keine Abstriche geben. Darunter werde aber die Qualität leiden, so Küchler. Sprich: weniger Direktverbindungen und Umsteigebeziehungen. 

Doch damit sei es nicht getan. Wenn der Bund jetzt keine saubere Ausgangslage schaffe, sagt Küchler, werde man in der Zukunft das Chaos haben. Er setzt sich dafür ein, dass mit dem nächsten Ausbauschritt, den das Parlament 2026 behandelt, das bisherige Angebot bloss gehalten, aber nicht ausgebaut wird. In den Ohren der Politik klingt das nicht gerade verlockend.

Die Problematik hat eine Vorgeschichte: Der letzte bedeutende Bahnausbau, abgesehen vom Durchgangsbahnhof Zürich und der Alpentransversalen Neat, war die «Bahn 2000». Deren Leuchtturm war die Strecke Zürich–Bern in 55 Minuten. Seitdem hat sich der Anteil der Bahnreisenden am Verkehr von 16 auf 20 Prozent erhöht.

Bei der S-Bahn Zürich ist es ähnlich. Was 1990 lokal begann, erreicht heute die halbe Schweiz. Viele sind auf die Bahn umgestiegen. Diese Grossprojekte wurden vor rund vierzig Jahren beschlossen: die S-Bahn Zürich 1981, die «Bahn 2000» im Jahr 1982.

Die Lektion daraus: Was man heute beschliesst, wird vierzig Jahre später zum Erfolg. Bern war die erste Stadt, die das S-Bahn-Konzept Zürichs intensiv zu kopieren begann. Die S-Bahn der Bundeshauptstadt reicht bis ins Wallis. Viele Pendlerinnen und Pendler aus Visp arbeiten in Bern. 

Andere Städte, die diese Entwicklung verschlafen haben, wollen jetzt nachziehen: Basel, Luzern und Genf. Basel verlangt eine unterirdische S-Bahn und einen neuen Bahnhof für Fernverbindungen. Luzern will zum S-Bahn-Hub der Innerschweiz werden. Dafür braucht die Stadt einen Durchgangsbahnhof wie Zürich. Und Genf will weitere S-Bahn-Linien.

Folgen der 10-Millionen-Schweiz

Hinzu kommt, dass die Bahn dem Bevölkerungswachstum entsprechend wachsen muss. Der Bund rechnet bis 2050 mit 10,5 Millionen Menschen in der Schweiz. Und schliesslich will der Bundesrat den Erfolg der «Bahn 2000» wiederholen: Der Anteil der Bahnreisenden am Verkehr soll von heute 21 Prozent auf bis zu 29 Prozent steigen.

Darunter sind ein paar schwere Brocken. Um nur zwei zu nennen: der Basler Bahnhof (rund 9 Milliarden Franken Kosten) und der Luzerner Durchgangsbahnhof (3,3 Milliarden Franken).

Die Vorschläge kommen aus den Kantonen. Der Bund bestimmt davon die wichtigsten Projekte, das Parlament bewilligt sie. Dann wird gebaut, SBB und Privatbahnen führen aus. Doch die Frage ist, ob sie das auch stemmen können. 

Küchler beschreibt das Verfahren als Bazar. Sein Paradebeispiel für ein unnötiges Projekt ist der Grimseltunnel für rund 0,8 Milliarden Franken. Für dieses und andere Projekte «wird das Geld nicht reichen, wenn man den Bahninfrastrukturfonds für den Substanzerhalt benötigt». 

Jede Milliarde für den Ausbau löst 25 bis 30 Millionen Franken pro Jahr Unterhaltskosten aus. Damit wächst der Bedarf für den Substanzerhalt im BIF so stark an, dass bei gleicher finanzieller Alimentierung in absehbarer Zeit weniger Geld für Ausbauten zur Verfügung stehen dürfte.

Verkehrsdirektoren in der Verteidigung

Der oberste Verkehrsdirektor der Kantone, Laurent Favre, verteidigt das Vorgehen: «Die Projekte sind kein Wunschkonzert, wie die Kritiker und Kritikerinnen behaupten. Der Ausbau bis 2050 wird so bedeutend sein, wie es die ‹Bahn 2000› war.» Man müsse «jetzt gut planen und bestellen, damit das in 25 Jahren Realität wird», so Favre.

Er weist die Kritik zurück, dass es für die Wünsche der Kantone kein Konzept gebe: «Jeder Ausbau wird vom Bund evaluiert.» Was die Folgekosten betrifft, sagt Favre: «Einen Geldmangel sollte es nicht geben.» Bei geschätzten Einkünften des Bahnfonds von 6 bis 7 Milliarden Franken pro Jahr, «werden 1,5 bis 2 Milliarden Franken pro Jahr für Ausbauten zur Verfügung stehen». Der Unterhalt habe Vorrang vor dem Ausbau. Neubauten könne man auch etappieren. Sein Fazit: «Jetzt ein Planungsmoratorium zu fordern, ist sehr unverantwortlich.» 

Der Direktor des Bundesamtes für Verkehr, Peter Füglistaler, bestätigte vor zwei Wochen, dass das Geld bis 2040 sowohl für den Unterhalt als auch für den Ausbau reiche.

Bis zum Ende dieser Periode sind es aber noch gut 15 Jahre. Die Fahrgäste werden um Verständnis gebeten.

Die Wunschliste der Projekte, um das zu erreichen, ist lang. Studien stützen das Konzept «Bahn 2050». Die bewilligten Ausbauten bis 2040 belaufen sich auf 27 Milliarden Franken. Hinzu kommen weitere von der «Handelszeitung» geschätzte 22 bis 30 Milliarden Franken für die Periode 2035 bis 2050.

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