Berner Chefarzt kritisiert Gutachter
«Die IV-Stellen sind nicht neutral!»

Thomas Ihde (51) ist Chefarzt der Psychiatrie der Berner Oberländer Spitäler FMI und Präsident der Stiftung Pro Mente Sana. Zudem ist er als Gutachter für die Inva­lidenversicherung tätig. Im Interview mit SonntagsBlick erklärt er, woran das IV-Gutachterwesen krankt.
Publiziert: 16.11.2019 um 23:31 Uhr
Der Berner Arzt L. hat mit IV-Gutachten seit 2012 rund 3,1 Millionen Franken verdient. Der Mann ist bekannt dafür, kaum jemanden für arbeitsunfähig zu erklären.
Foto: Zvg
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Interview: Thomas Schlittler

Herr Ihde, vor einer Woche machte SonntagsBlick publik, dass einige Ärzte mit IV-Gutachten Millionen verdienen. Was sagen Sie dazu?
Thomas Ihde: Die Zahlen sind erstaunlich. Es ist eine verantwortungsvolle Aufgabe, die Arbeitsfähigkeit von Menschen zu beurteilen. Das soll angemessen entlöhnt werden. Wenn aber Ärzte, die ausschliesslich IV-Gutachten ausstellen, teilweise bis zu dreimal mehr verdienen als Ärzte, die Pa­tienten behandeln, dann stimmt etwas nicht.

Anhand der Einkommen lässt sich errechnen, dass einige Ärzte pro Jahr 150 IV-Gutachten oder mehr ausstellen. Ist das seriös?
Nein. Zudem gibt es klare Hinweise darauf, dass einige IV-Ärzte einseitig urteilen. Von Patienten höre ich immer wieder, dass sich Gutachter für die psychiatrische Untersuchung nur 30 Minuten Zeit nehmen – und das, um komplexe Lebenssituationen zu beurteilen. Weiter bekomme ich für unterschiedlichste Menschen regelmässig Gutachten zu Gesicht, die praktisch identisch sind. Das ist ein klarer Hinweis auf Copy-Paste und reine Fliessbandarbeit.

Es gibt auch Ärzte, die ihre Praxis im Ausland haben, für ein paar gut bezahlte IV-Gutachten in die Schweiz fliegen und dann wieder verschwinden. Wie beurteilen Sie das?
Nicht alle Flugärzte sind schlecht. Einige machen das seit Jahren, sind mit den Gegebenheiten in der Schweiz vertraut und arbeiten seriös. Aber es gibt auch jene, die nur wegen des Geldes hier sind und die Schweiz kaum kennen. Unter diesen Umständen ist ein seriöses Gutachten unmöglich. Für die Patienten ist es zudem teils schwierig, wenn der Arzt kein Schweizerdeutsch versteht. Sie können sich auf Hochdeutsch nicht wie gewünscht ausdrücken.

Sie arbeiten ebenfalls als IV-Gutachter. Macht Ihnen das schlechte Image zu schaffen?
Ich möchte betonen: Der Grossteil der IV-Gutachter macht einen guten Job! Es sind einige schwarze Schafe, welche die ganze Branche in Verruf bringen. Das ist tragisch. Denn genau wegen dieses schlechten Rufs wollen viele behandelnde Ärzte, die seriös arbeiten, nicht als Gutachter tätig sein.

Wieso bekommen diese schwarzen Schafe immer wieder Aufträge?
Einige IV-Stellen scheinen jene Gutachter zu bevorzugen, die in ihrem Sinne entscheiden. Das lässt sich zwar nicht abschliessend belegen, weil die IV-Stellen keine Transparenz herstellen. Aus eigener Erfahrung kann ich aber sagen: Ich erhielt von der IV schon mehrmals Rückfragen, weil ich einem Patienten eine Arbeitsunfähigkeit attestiert hatte. Ich bekam aber noch nie eine Rückfrage, wenn ich einen Patienten für gesund und arbeitsfähig erklärte ...

Die Einschätzung von Gutachtern wird von der IV höher gewichtet als die Einschätzung jener Ärzte, bei denen die Patienten effektiv in Behandlung waren. Wieso?
Die behandelnden Ärzte gelten als voreingenommen und deshalb zu «weich» in der Beurteilung. Die Gutachter dagegen gelten als neutral. Wenn aber drei behandelnde Ärzte völlig anders urteilen als der Gutachter, dann stellen sich schon Fragen. Allerdings besteht auch Handlungsbedarf bei den Behandlern. Sie müssen besser geschult werden.

Haben Sie weitere Vorschläge, um die heutige Situation zu verbessern?
Die IV-Stellen sind nicht neutral, sondern Partei. Sie dürfen deshalb nicht darüber entscheiden, wer ein Gutachten erstellt. Sämtliche Gutachten müssen nach dem Zufallsprinzip vergeben werden. Zudem braucht es eine übergeordnete Qualitätskontrolle von Gutachten und Gutachtern. Eine unabhängige Stelle, bestehend aus Vertretern der IV, Patientenorganisationen sowie der Versicherungsmedizin, könnte so ein System entwickeln. Es braucht Transparenz über die Entscheide der einzelnen Gutachter. Und Gespräche zwischen Gutachtern und Patienten gehören aufgezeichnet.

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