Pandemie gibt «Gig economy» einen Schub
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Eine neue Klassengesellschaft:Pandemie gibt «Gig economy» einen Schub

Corona liess mit Uber Eats und Co eine neue Klassengesellschaft entstehen
Die neuen Dienstboten

Mit der Pandemie kam ein Heer von billigen, nahezu rechtlosen Helfern zur Erledigung von Botengängen und anderer Mühsal des täglichen Lebens. Welche Jobs der «Gig economy» werden überleben? Und warum auch reguläre Berufe betroffen sind.
Publiziert: 27.06.2021 um 01:10 Uhr
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Aktualisiert: 27.06.2021 um 11:48 Uhr
Tobias Marti

Mittagszeit in Zürich-Oerlikon. Michele (21) schiebt sein Velo in den Schatten. Er trägt Trainerhosen und einen sperrigen Rucksack mit Aufdruck, das Zunftzeichen seiner Truppe.

Zwei Stunden nach Beginn der Schicht hat er 20 Kilometer abgespult, ist brenzligen Situationen ausgewichen und hat 23 Franken verdient. Er wird von Uber Eats, seinem Boss, pro Auftrag bezahlt. Heute waren es zwei.

Gig Economy nennt sich dieses System. Ein Heer freier Mitarbeiter sucht auf Online-Plattformen nach Jobs. Nur für diese «Gigs» werden sie bezahlt. Gig (engl. für «Auftritt») tönt gut, flexibel und selbstbestimmt, nach grosser Bühne und Rolling Stones. Die Realität erinnert mehr an Uli den Knecht.

Die einen ordern, die andern liefern: Katrin und Michele fahren essen aus. Eine neue Botenklasse im Land ist unübersehbar.
Foto: Siggi Bucher
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Wenig Rechte, viele Pflichten

Die Regeln machen nicht die rechtlosen Billigarbeiter, die alle Risiken tragen, sondern die Vermittlungsplattformen. Regeln gibt es in der schönen neuen Arbeitswelt ohnehin nur wenige: Versicherung, Ferien, Kündigungsschutz, Arbeitszeit, AHV-Beiträge ... vieles bleibt unreguliert. Mit Absicht.

So musste Michele seine Versicherung selber abschliessen. Auch das Velo kaufte er. «Besser ich mache keinen Unfall», scherzt der Kurier, der noch für andere fährt. Die Arbeit sei streng, aber er will nicht klagen, immerhin sei der Job besser als Sozialhilfe.

Wer in einer Schweizer Stadt wohnt, hat den Eindruck, über Nacht hätte sich ein neuer Typ Arbeitnehmer exponentiell vermehrt: Velokuriere, Vespa-Boten und Paketlieferanten gehören nun überall zum Strassenbild. Seit der Pandemie boomt dieser Wirtschaftssektor. Er lebt davon, dass Herr und Frau Schweizer immer weniger Zeit haben. Mit dem Virus kam die Angst vor Ansteckung dazu.

Eine neue Bequemlichkeit hat sich breitgemacht. 80 Prozent der Bürolisten wollen auch nach der Krise zumindest teilweise im Homeoffice bleiben, zeigte eine Umfrage im Mai. Allein bei Essenslieferanten hat sich der Umsatz seit 2018 fast verdoppelt: 2020 waren es bereits 2,1 Milliarden Franken.

Dienstboten der oberen Klassen

Die einen ordern, die andern liefern. An der Türschwelle und im Treppenhaus zeigt sich die neue Klassengesellschaft unseres Jahrhunderts. Das Virus macht oben und unten wieder klarer sichtbar.

Die Beschäftigung der Gig-Arbeiter sei in der Regel prekär, erklärt der Sozialwissenschaftler Marko Kovic. Die Leute verdienten schlecht, Ausbeutung sei keine Seltenheit, wer sich ein Bein breche, müsse selber schauen, jedermann sei beliebig austauschbar.

Kovic hingegen findet, wer Vollzeit arbeite, solle davon würdig leben können. Nur sei das mit Gig-Arbeit nicht garantiert. «Man hängt sich 60 Stunden rein und hungert trotzden am Ende des Monats.»

Die neue Dienstleistungskultur ist gekommen, um zu bleiben. «Strom, Internet und auch die Gig Economy – manche Erfindung ist nicht rückgängig zu machen», sagt Karin Frick, Zukunftsforscherin am Gottlieb Duttweiler Institut.

Mittlerweile geht es um mehr als nur eine neue Botenklasse. Das Gig-Modell, das System der Schwarmarbeiter, lässt sich auf nahezu jede Arbeit anwenden. Anders gesagt: Es kann fast jeden treffen.

Die Entrechtung der Lohnnarbeiter

Rechtsprofessor Kurt Pärli von der Uni Basel hat über diesen Plattform-Kapitalismus ein Buch geschrieben. Dieses System könnte sehr weit gehen. Der Kellner würde damit künftig nicht mehr vom Restaurant angestellt, sondern bekäme die Gäste über eine digitale Plattform zugeteilt. Der Professor arbeitete nicht länger für die Uni, sondern die würde ihm Studenten über eine digitale Plattform vermitteln.

Viele solche Beschäftigte seien schon heute pseudoselbständig, die Arbeitgeberstellung werde verschleiert, sagt Pärli. So lassen sich Sozialabgaben und Steuern sparen. Pärli: «Am Ende ist es ein Untergraben von sozialstaatlichen Errungenschaften.»

Rentner Hansjürg Tschanz (92) aus Zürich möchte Tennis schauen, aber das Internet bockt. Darum schickte die Swisscom einen Techniker. Der heisst Elmar Netzer und steht nun in Tschanz’ Wohnung. Der Clou an diesem Arrangement: Der Swisscom-Mann ist kein Swisscom-Mann, sondern ein Gig-Arbeiter.

Elmar Netzer, Hausmann und als IT-Berater selbständig im Nebenerwerb tätig, nimmt drei bis fünf solche Aufträge pro Woche an. Sie kommen von der Firma Mila, die bis 2020 im Besitz der Swisscom war, eine «Plattform für Nachbarschaftshilfe» betreibt und Techniker zu Kunden schickt. Um Sozialabgaben und Unfallversicherung kümmert sich Netzer selbst.

Der Algorithmus gibt den eingehenden Auftrag an jenen seiner Techniker, der die beste Kundenbewertung hat. Ist der Fachmann damit nicht der Launen seiner Kundschaft ausgeliefert? Am Ende muss der Büezer auch noch Kaffee servieren, damit die Bewertung stimmt

Netzer widerspricht. «Mit dem System werden die belohnt, die die Arbeit richtig machen», findet er. Sein 45 Minuten-Tarif liegt bei 84 Franken. Nach einer Viertelstunde läuft das Tennismatch wieder störungsfrei.

Sogar die Migros macht mit

Mittlerweile experimentieren also bereits Staatsbetriebe mit dem Versuchsballon Gig Economy. Diese Woche wurde auch bekannt, dass die Migros ihre umstrittene Kooperation mit der Gig-Lieferfirma Smood ausbaut. Zukunftsforscherin Frick befürchtet, dass dies in der Tendenz dazu führt, dass Festanstellungen mitsamt den damit verbundenen Errungenschaften wie Sozialleistungen oder unbefristeter Beschäftigung allmählich verschwinden.

Ihre Vision: Firmen suchen sich Projektteams auf der ganzen Welt zusammen. Lohn bekommt nur, wer gerade gebraucht wird. Je weniger qualifiziert man ist, je mehr andere die Leistung anbieten, umso schlechter die Bezahlung.

Höchstens 20 Prozent seien Spezialisten oder Koryphäen, schätzt die Zukunftsforscherin. Die seien auch international gefragt. Sie haben die Auswahl und können die bestbezahlten Gigs annehmen. Der Rest müsse wohl oder übel die Bedingungen akzeptieren, die gerade angeboten werden.

«Das ist das Obszöne am Ganzen», sagt Sozialwissenschaftler Kovic. Je mehr Leute auf einer Plattform seien, desto besser werde die Dienstleistung – desto mehr konkurrenzieren sie sich aber auch, und die Einkommen brächen ein.

Der Wandel der Arbeitswelt geschieht nicht in einer fernen Zukunft, er ereignet sich gerade jetzt. Manche sprechen bereits vom Beginn eines neuen Zeitalters.

Pandemie als Beschleuniger

Trendforscherin Frick sieht Parallelen zur Ära kurz vor der industriellen Revolution. Die Pandemie sei ein Beschleuniger gewesen, weil da klar geworden sei, wie viel von daheim erledigt werden könne. Der Arzt, der auf dem Bildschirm des Kranken erscheint, sitzt in Deutschland. Der Baggerführer, der die Baumaschine steuert, in Italien. Gewisse Berufe schienen gerade so zukunftssicher wie früher jener der Rohrpostbeamtin.

Das System der sozialen Sicherung, darunter auch die AHV, droht durch die neuen Formen der Beschäftigung wegzubrechen. Die Sorge: Am Ende der digitalen Revolution verarmt der Mittelstand.

Die Gig Economy lebe davon, dass es ein Überangebot an Arbeitskräften gebe und die Leute sich nicht zu Interessengruppen zusammenschliessen, sagt Karin Frick. Die Möglichkeit, sich gewerkschaftlich zu organisieren, werde wieder wichtiger.

Noch ist Gig-Arbeit hierzulande die Ausnahme, für viele ist sie eine Gelegenheit zum Nebenverdienst. Gemäss einer Studie der Gewerkschaft Syndicom hat ein Drittel der Schweizer aber schon einmal nach Arbeit auf einer solchen OnlinePlattform gesucht. Das war vor der Pandemie.

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Die Politik muss reagieren

Der Anteil solcher Jobs liegt im einstelligen Prozentbereich, könne aber «jederzeit exponentiell wachsen», so Kovic: «Wir stehen am Scheideweg. Die Politik müsste reagieren.»

Das tut sie. Nur anders, als gut wäre. Liberale Politiker wollen für die Gig Economy neue Gesetze und einen neuen Rang. Büezer wären darin weder selbständig noch abhängig, sondern irgendwas dazwischen. Die Gewerkschaften laufen dagegen Sturm.

Rechtsprofessor Kurt Pärli hält solche Ideen aus Bern für «eine unnötige Verkomplizierung». Es habe keinen Sinn, noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse zuzulassen. Systeme wie den Stundenlohn gebe es schon; sie müssten auch durchgesetzt werden. Pärli: «Wenn ein Unternehmen hier wirtschaftet, muss es sich an Schweizer Recht halten.»

Korrigiert der Markt zumindest die allerschlimmsten Auswüchse von selbst? Der britische Lieferdienst Deliveroo wollte im Frühjahr an die Börse. In letzter Minute drückten die grossen Investoren den Aktienpreis des Börsengangs. Der Grund: Sie waren wegen der prekären Arbeitsbedingungen der Fahrer dann doch skeptisch.

«Irgendwie wird alles entmenschlicht»

In Zürich-Oerlikon trifft Velokurier Michele auf die Konkurrenz. Die heisst Katrin (27), trägt eine orangefarbene Montur und ist angehende Akademikerin. Ihre Situation zeigt, wie’s auch gehen könnte: Sie ist bei eat.ch angestellt, versichert, wird pro Stunde bezahlt, sogar für die Wartezeit. «Doch, der Job macht eigentlich Spass!», sagt sie.

Nur das Verhältnis zwischen Kunden und Dienstleistern verändere sich gerade. Die Leute wüssten nicht mehr, wo die Dinge herkommen: «Irgendwie wird alles entmenschlicht.»
Aber jetzt muss sie los. Die Glace schmilzt.

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