Das grosse Interview mit VW-Chef Matthias Müller
«Jetzt sehen alle, dass etwas schiefgelaufen ist»

VW-Chef Matthias Müller führt den grössten Autokonzern der Welt durch die grösste Krise seiner Geschichte. Im Exklusiv-Interview erzählt er, wie man 600'000 Menschen führt – und wie er den Abgasskandal bewältigt.
Publiziert: 12.03.2017 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 16:33 Uhr
Interview: Christian Dorer; Fotos: Philippe Rossier

Der Terminkalender ist gedrängt, 45 Minuten sind für das Interview eingeplant. Es ist das einzige während des Autosalons in Genf, an dem VW-Chef Matthias Müller einen Tag lang anwesend ist. Wir treffen uns in seinem Büro am VW-Stand. Ich zeige ihm ein Foto meines VW-Bus-Oldtimers. Er wurde 1974 gebaut – in jenem Jahr, als Müller als Lehrling in den Konzern eintrat. Sein Sohn habe dasselbe Modell, erzählt der VW-Chef begeistert. Das Eis ist gebrochen. 

Herr Müller, wie ist das so, Chef über mehr als 600’000 Angestellte zu sein?
Matthias Müller: Vor allem ist das eine sehr grosse Verantwortung, der ich mir bewusst bin, auch wenn ich im Alltag eher mit einem überschaubaren Kreis von Kollegen direkt zusammenarbeite.

Fühlen Sie sich mächtig?
«Macht» ist ein Begriff, mit dem ich nicht viel anfangen kann. Mich treibt eher an, gestalten zu können. Das kann ich als Vorstandsvorsitzender eines so grossen Konzerns gemeinsam mit meinem Team. Aber ein Traumjob ist das dennoch nicht unbedingt jeden Tag.

«Die Menschen werden auch in Zukunft nach Individualität streben», sagt Matthias Müller.
Foto: Philippe Rossier

Warum nicht?
Weil er derzeit mit vielen Herausforderungen verbunden ist. Da ist einerseits die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Dieselkrise. Zweitens müssen wir das aktuelle Geschäft in unsicheren Zeiten gut führen. Und drittens beschäftigen wir uns mit der Mobilität der Zukunft. Die digitale Transformation ist nicht nur Gerede, sondern findet sehr dynamisch statt und muss gestaltet werden. Ich gebe zu: Diese dritte Aufgabe fasziniert mich am meisten.

Müller im ersten selbstfahrenden VW.
Foto: Philippe Rossier

Sie gelten als Hoffnungsträger, Sie müssen den Konzern retten und in die Zukunft führen. Wie gehen Sie mit diesem Druck um?
Da helfen Lebensalter und Erfahrung. Man braucht innere Ruhe, Gelassenheit. Ich versuche auf meinen Körper zu hören. Darauf zu achten, was mir guttut. Ich brauche Zeit für Freunde und die Familie. Da kann ich meine Batterien aufladen.

Sie begannen Ihre Karriere mit einer Lehre als Werkzeugmechaniker. Hilft Ihnen diese Erfahrung heute noch?
Das ist sicher so und hat meine Einstellung zum Leben geprägt. Für mich ist ein Arbeiter genauso viel Wert wie ein Manager. Jeder macht seinen Job, gibt sein Bestes. Ich entstamme einer einfachen Familie. Nach der Flucht aus der DDR waren wir in den 1950er-Jahren mittellos. Das sorgte dafür, dass ich immer auf dem Boden geblieben bin.

Sie müssen bei VW einen Kulturwandel herbeiführen. Wie weit sind Sie?
Dieses Unternehmen wurde 20 Jahre lang von Ferdinand Piëch und Martin Winterkorn geprägt. In dieser Zeit wurde eine bestimmte Kultur gelebt: sehr zentral geführt, vieles wurde am Hauptsitz in Wolfsburg entschieden. Partnerschaften mit anderen Unternehmen waren eher schwierig. Ich sage nicht, dass das zu seiner Zeit verkehrt war. Der Konzern hatte lange grossen Erfolg. Aber heute funktioniert das so nicht mehr.

Was machen Sie anders?
Unsere Marken wie VW, Skoda, Seat, Porsche und Audi erhalten mehr Verantwortung für ihr operatives Geschäft. Wir wollen so agiler und schneller werden. Aber auch kritikfähiger. Das klingt zwar alles einfach, ist es aber nicht. Der Wandel braucht Zeit und Veränderungsbereitschaft. In einem gewissen Mass wollen wir die Silicon-Valley-Arbeitsweise in unsere tägliche Arbeit übertragen. Unseren eigenen traditionellen Stärken bleiben wir aber dennoch treu.

Ist der VW-Konzern nicht ein Dampfer, der weiterfährt, egal, wohin der oberste Chef steuert?
Grosse Organisationen reagieren naturgemäss träge auf Richtungswechsel. Aber mit kleinen Symbolen kann ein Vorstandschef schnell sichtbar werden. Wenige Tage nach meinem Beginn ging ich in der Werkskantine zum Mittagessen. Vielen ist die Gabel im Mund stecken geblieben. Die dachten sich: Hat der sich verlaufen? Früher war der Chef halt nie in der Kantine. Auch die Funktion «Vorstandsfahrt» bei unseren Aufzügen im Verwaltungsgebäude haben wir abgeschafft. Solche Zeichen wirken.

Führen durch Vorbild?
Wenn ich heute meine Krawatte ablege, dann laufen morgen alle ohne Krawatte rum. Solche Äusserlichkeiten sind aber nur bis zu einem gewissen Punkt zielführend. Der Kulturwandel muss tiefer gehen. Es geht darum, dass meine Kollegen und ich den Wandel im Alltag vorleben. Wenn wir das authentisch tun, werden die Mitarbeiter dem Vorbild folgen.

Hilft der Abgasskandal, Veränderungen durchzusetzen, die ohnehin sein müssten?
Ja, das hilft schon. In Zeiten, in denen es einem gut geht, fällt es uns Menschen schwer, uns zu verändern. Jetzt sehen alle, dass etwas schiefgelaufen ist, der Druck ist gross. Insofern ist jetzt der richtige Zeitpunkt, gewisse Dinge und Prozesse zu hinterfragen.

Die Zukunft! CEO Müller mit VW Sedric.

Ist im Abgasskandal nun alles auf dem Tisch oder ist es möglich, dass noch mehr ans Licht kommt?
Auf der Kundenseite sind wir inzwischen sehr weit fortgeschritten: In Deutschland sind bereits 65 Prozent der betroffenen Autos repariert worden, europaweit sind es etwa 50 Prozent. Pro Woche kommen 250'000 Fahrzeuge hinzu. Im Januar wurde das «Statement of Facts» durch das US-Justizministerium veröffentlicht. Es ist das Ergebnis umfangreicher unabhängiger Untersuchungen und Befragungen und zeichnet die Ursprünge und wesentlichen Entwicklungen der Vorgänge nach. Wir glauben, dass wir auf dieser Grundlage ein gutes Bild davon haben, was falsch lief. Unabhängig davon unterstützen wir unverändert die noch laufenden Ermittlungen, weil wir selbst das grösste Interesse daran haben, das alles restlos geklärt wird.

Wie stark wirkt der Imageschaden nach?
Zunächst mal verstehen wir die 10,3 Millionen Fahrzeuge, die der Konzern im vergangenen Jahr weltweit verkauft hat, als Vertrauensbeweis unserer Kunden. Aber natürlich liegt noch sehr viel Arbeit vor uns. Wir müssen uns nichts vormachen: Das wird uns noch Jahre beschäftigen.

Und gleichzeitig wandelt sich der Autoverkehr komplett. Hier in Genf haben Sie den selbstfahrenden VW Sedric präsentiert. Wann steuern wir unsere Autos nicht mehr selber?
Vermutlich Ende dieses Jahrzehnts werden Kleinstserien produziert und zunächst in abgegrenzten Gebieten ausprobiert. Mit Hamburg haben wir eine strategische Mobilitätspartnerschaft geschlossen. Es ist denkbar, dass wir dort Tests durchführen. Zu Beginn werden diese Fahrten noch begleitet sein, das voll autonome Fahren ist die Endstufe. 

In fünfzig Jahren wird niemand mehr selber fahren?
Das ist wahrscheinlich so, die Frage ist, ob es so lange dauert. Ich bin mir aber noch nicht sicher, ob alles autonom passieren wird. Nur wird man sich dann das Lenkrad eventuell als Sonderausstattung bestellen (lacht).

Autofahren ist doch auch Lebensgefühl.
Absolut. Ich kann mir vorstellen, dass sich Menschen durch die ganze Technologisierung wieder zurückbesinnen. Vielleicht wollen wir uns in Zukunft nicht mehr von unserem Smartphone steuern lassen. Für die Kommunikation mag das nützlich sein. Aber wenn junge Menschen nur noch in der digitalen Welt unterwegs sind und nicht mehr miteinander sprechen, ist das bedenklich.

BLICK-Chefredaktor Christian Dorer (2. v. r.) im Gespräch mit Matthias Müller (l.).
Foto: Philippe Rossier

Wenn uns selbstfahrende Kapseln transportieren, ist es dann nicht völlig egal, von welchem Hersteller es kommt?
Nein, die Menschen werden auch in Zukunft nach Individualität streben. Und Autos werden für viele hochemotionale Objekte bleiben. Wir beschäftigen uns sehr intensiv mit den Trends von übermorgen und den sich verändernden Wünschen unserer Kunden. Unsere Designer sind gefordert, den Unterschied zu machen: Es wird auch künftig Premiumsegmente geben, verschiedene Grössen, unterschiedliche Anforderungen für verschiedene Weltregionen.

Aber die Anzahl PS spielt keine Rolle mehr, wenn ich nicht selber am Steuer sitze.
In Zukunft geht es sicher mehr um Reichweite, Ladegeschwindigkeiten, Komfort.

Bleibt ein Auto ein Statussymbol?
Viele behaupten, dass Autos in Zukunft keine Statussymbole mehr seien. Ich bin da skeptisch. Schauen Sie: Vor gut 30 Jahren kam Swatch mit einer billigen Uhr auf den Markt, und die Uhrenindustrie wurde für tot erklärt. Und heute? Geht es der Uhrenindustrie besser denn je. Uhren sind ein Statussymbol, obwohl ich die Zeit auf dem Handy ablesen kann. Ob Wohnung, Auto, Möbel, Kleidung – da gibt es sehr individuelle Bedürfnisse bei den Menschen.

Sind die Tage des herkömmlichen Verbrennungsmotors gezählt?
Noch lange nicht! Wir werden auch in 30 Jahren noch Verbrennungsmotoren in grösseren Stückzahlen haben. Wir werden Benziner und Diesel weiter optimieren. Gleichzeitig investieren wir sehr stark in die Entwicklung neuer Technologien wie der Elektromobilität.

Aber die langfristige Zukunft ist elektrisch?
Elektrisch in irgendeiner Form. Es gibt Übergangslösungen wie Plug-In-Hybride. Aber auch andere emissionsarme Antriebe wie Gas haben Chancen.

Wann werden Elektroautos günstiger?
Die nächste Generation unserer Elektrofahrzeuge soll preislich auf dem Niveau eines heutigen Diesels liegen.

Ein weiteres Problem ist die Reichweite.
Auch an der Batterietechnologie arbeiten wir intensiv. Nächstes Jahr bringt Audi einen batterieelektrischen SUV mit einer Reichweite von 500 bis 600 Kilometern, im Jahr darauf kommt ein Porsche mit 600 Kilometern. Zudem reduzieren sich die Ladezeiten auf 15 Minuten, also auf die Dauer einer Kaffeepause.

Wie kann es sein, dass ein Neuling wie Tesla alle etablierten Hersteller in den Schatten stellt?
Tesla-Gründer Elon Musk ist ein cleverer Unternehmer. Er kann sich voll auf die E-Mobilität fokussieren und denkt konsequent in die Zukunft. Er hat dabei eine vorübergehende Schwäche von etablierten Herstellern ausgenutzt – sehr mutig, sehr agil. Jedoch hat Tesla bisher noch nie Geld verdient. Und: Sie verkauften im vergangenen Jahr knapp 80’000 Autos – wir mehr als zehn Millionen. Deshalb beobachten wir die Entwicklung mit Respekt, aber Angst davor haben wir nicht.

Persönlich

Matthias Müller (63) wurde im September 2015 quasi über Nacht Chef von Volkswagen, dem grössten Autohersteller der Welt mit 60 Werken und 600'000 Angestellten. Vorgänger Martin Winterkorn musste wegen manipulierter Diesel-Abgaswerte zurücktreten. Müller floh als Dreijähriger mit seinen Eltern aus der DDR in den Westen, vor 42 Jahren begann er als Werkzeugmechanikerlehrling bei Audi, studierte Informatik und machte steil Karriere im VW-Konzern, zuletzt war er Chef von Porsche. Müller hat zwei erwachsene Kinder und ist mit der ehemaligen Nummer 24 der Tennis-Weltrangliste, Barbara Rittner, liiert.

Matthias Müller (63) wurde im September 2015 quasi über Nacht Chef von Volkswagen, dem grössten Autohersteller der Welt mit 60 Werken und 600'000 Angestellten. Vorgänger Martin Winterkorn musste wegen manipulierter Diesel-Abgaswerte zurücktreten. Müller floh als Dreijähriger mit seinen Eltern aus der DDR in den Westen, vor 42 Jahren begann er als Werkzeugmechanikerlehrling bei Audi, studierte Informatik und machte steil Karriere im VW-Konzern, zuletzt war er Chef von Porsche. Müller hat zwei erwachsene Kinder und ist mit der ehemaligen Nummer 24 der Tennis-Weltrangliste, Barbara Rittner, liiert.

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