Eine Fabrik wie aus einer anderen Zeit
Inside Ems-Chemie

Der Konzern von Martullo-Blocher steckt in der Krise. Weil sie ihre Millionen an Dividenden sichern will, verfügte die Chefin strikte Sparmassnahmen. Das geht auf Kosten von Arbeitsplätzen und Infrastruktur – und scheint die Sicherheit des Personals zu beeinträchtigen.
Publiziert: 05.11.2023 um 01:12 Uhr
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Aktualisiert: 10.11.2023 um 13:52 Uhr
Werk der Ems-Chemie in Domat/Ems: Der schlechte Zustand der Infrastruktur ist augenfällig – und auch schriftlich belegt.
Foto: Thomas Schlittler
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Die Bündner SVP hat einen zweiten Sitz im Nationalrat zurückerobert. Magdalena Martullo-Blocher (54), die den Wahlsonntag in einem Restaurant in Chur GR erlebte, rief ihren Parteifreunden zu: «Heute können wir etwas feiern, und morgen sind wir wieder im Einsatz.»

Das trifft in erster Linie auf Martullo-Blocher selbst zu. Die Politik jedoch dürfte bei ihr derzeit nur zweite Priorität haben: Bei ihrer Ems-Chemie harzt es gewaltig. Diese Woche musste der Konzern bekannt geben, dass die Umsätze in den ersten neun Monaten 2023 auf 1,7 Milliarden Franken zurückgegangen sind, ein Minus von 9,3 Prozent gegenüber dem Vorjahr – und ein Drama für den erfolgsverwöhnten Betrieb.

Zwei Tage nach dem Wahlerfolg jettete Martullo-Blocher deshalb nach Amerika, im November steht eine Geschäftsreise nach Asien an: Die Chefin kümmert sich persönlich um mehr Aufträge.

Auch am Hauptsitz in Domat/Ems GR bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Die Produktion wurde wegen zurückgehender Verkaufszahlen und einem Abbau des Lagers massiv gedrosselt. Abteilungsleiter sind dazu angehalten, ihre Kosten auf den Stand von 2019 zu senken.

Denn auch 2023 soll ein hoher Gewinn erreicht werden. Nur so sind die horrenden Gewinnausschüttungen an die Eigentümer möglich. Für das Geschäftsjahr 2022 erhielten die Aktionäre Dividenden in Höhe von 468 Millionen Franken. Allein für die Hauptaktionärinnen Martullo-Blocher, Miriam Baumann-Blocher (48) und Rahel Blocher (47) gab es 332 Millionen. Zum Vergleich: Der Personalaufwand betrug 2022 rund 246 Millionen Franken – für sämtliche 2693 Ems-Mitarbeitenden.

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Ende Jahr dürfte die Zahl der Angestellten tiefer sein. «Die geforderten Kostensenkungen sind ohne den Abbau von Arbeitsplätzen in kaum einer Abteilung zu erreichen», sagt ein Insider gegenüber SonntagsBlick. Temporäre habe man deshalb nach Auslaufen der Verträge aussortiert, befristete Verträge nicht verlängert. Zudem seien viele Produktionsmitarbeiter zwangsversetzt worden – vom besonders stark kriselnden Unternehmensbereich «Griltech» in die Abteilung «Grivory», wo es besser läuft.

Ein Unternehmenssprecher kommentiert: «Dank der Nichterneuerung von Temporär- und befristeten Verträgen, sowie der Verschiebung von einzelnen Mitarbeitern von ‹Griltech›-Anlagen zu ‹Grivory›-Anlagen wurden Entlassungen von festangestellten Mitarbeitern vermieden.» Die Betriebskommission habe mit den von Verschiebungen betroffenen Mitarbeitern Gespräche geführt.

Kündigungen

Mitarbeiter, mit denen SonntagsBlick Kontakt aufnehmen konnte, stützen diese Aussagen nur bedingt. Ein Kadermann, der anonym bleiben will: «Es sind in den letzten Monaten ganz sicher mehr als 30 Kündigungen von Festangestellten ausgesprochen worden.»

Das ist ein brisanter Vorwurf: Wenn mehr als 30 Arbeitnehmende von Entlassungen betroffen sind, haben Grossunternehmen laut Arbeitsgesetz die Pflicht, dies dem Kanton zu melden. Entsprechend heftig dementiert die Konzernspitze: «Den behaupteten Abbau von 30 meldepflichtigen Kündigungen können wir in keiner Weise nachvollziehen und weisen das entschieden zurück», sagt der Sprecher.

So steht Aussage gegen Aussage – wobei die der Konzernspitze schwerer wiegt: Ausser den Mitgliedern der Geschäftsleitung hat niemand eine Übersicht über alle Kündigungen.

Seit Jahren geknausert wird auch bei der Infrastruktur. Kürzlich wurde zwar in Rekordzeit ein neues Hochregallager gebaut, das im Dezember in Betrieb genommen werden soll. Wegen der Auftragsflaute dürfte es aber zumindest vorerst lediglich schlecht gefüllt sein. Es soll daher zum Teil vermietet werden.

Darüber hinaus werden bei Ems-Chemie nur ungern Investitionen in die Infrastruktur bewilligt. Einige Produktionsanlagen sind 50-jährig. Pumpwerke oder Trafostationen, die elektrische Energie in den Mittel- oder Niederspannungsstrom umwandeln, stammen teilweise aus den 50er-Jahren – sobald es Ausfälle gibt, wird vom Personal Nacht- und Wochenendarbeit erwartet.

Der schlechte Zustand der Infrastruktur in Domat/Ems ist augenfällig – und auch schriftlich belegt. Im Dezember 2022 wurden in einem internen Auditbericht, der SonntagsBlick vorliegt, gleich reihenweise sicherheitsrelevante Mängel festgestellt:

«Defektes Telefon und Buchse.» «Hitzeschilder bei Linie A fehlen.» «Mehrere Löcher im Boden neben Linie E.» «Abzugsleitung Linie G verstopft.» «Ungenügend gesichertes Loch bei Baustelle Linie I.» «Improvisierte Stromleitungen mittels z. T. befestigter Kabelrollen bei Linie B.» «3 Notausgangschilder sind defekt / nicht lesbar.»

Fazit des Rapports: «Es hat viel Schmutz, Staub und nicht benötigtes Material. Darunter leidet auch die Sicherheit.» Die dazugehörigen Bilder wirken wie ein schlechter Witz, den Qualitätsansprüchen der Schweizer Industrie unwürdig. Wie sind solche Zustände bei einem international renommierten Unternehmen möglich?

Mängel behoben

Die Verantwortlichen verweisen darauf, dass am Standort Domat/Ems rund 1000 Beschäftigte tätig seien, die auf einer Fläche von 24 Fussballfeldern mehr als eine Milliarde Franken Umsatz produzierten: «Der Platz ist also sehr gross. Weil wir Ordnung, Sauberkeit und Arbeitssicherheit sehr ernst nehmen, kontrollieren wir sie regelmässig durch Vorgesetzte anderer Verantwortungsbereiche», sagt ein Sprecher. Dabei werde «jede Kleinigkeit» akribisch aufgenommen, um Probleme in Zukunft zu vermeiden. «Die im Bericht angemerkten Mängel sind in der Zwischenzeit alle längst behoben», betont der Konzern. Zudem investiere Ems pro Jahr 20 bis 30 Millionen Franken in die Infrastruktur und den Unterhalt, so auch 2023.

Das scheint nicht alle zu befriedigen. Externe Firmen, die jahrelang auf dem Gelände von Ems-Chemie eingemietet waren, suchten in den vergangenen Monaten das Weite. Sie zügelten mit 150 Mitarbeitern in den neuen Industriepark Vial gleich auf der anderen Strassenseite.

Die Unfallstatistik lässt ebenfalls zu wünschen übrig: 2022 wurden in Domat/Ems 34 Kleinunfälle und 29 Betriebsunfälle gezählt. Besonders prekär ist die Situation in der Produktion der Unternehmenseinheit «Grivory», wo es in den vergangenen zwölf Monaten zu 7,6 Betriebsunfälle pro 100 Mitarbeiter kam.

Das sind deutlich mehr als die firmeneigene Zielsetzung verlangt, der sogenannte «Frequency Index». Vergleichszahlen der Suva für die Branche «Herstellung von Grund- und Feinchemikalien», zu der Ems gehört, sehen ebenfalls besser aus: Im Branchenschnitt werden jährlich rund 2,4 Berufsunfälle pro 100 Vollzeitbeschäftigte registriert.

Darauf angesprochen, redet die Führungsspitze die eigene Statistik klein: «Es handelt sich um ein ambitiöses Reduktionsziel. In der Mehrheit sind das Fälle, die zu keinem oder zu einem nur sehr kurzen Ausfall von wenigen Stunden im Schnitt führen», so der Sprecher. Zudem betonen die Verantwortlichen abermals, dass Ems die Arbeitssicherheit sehr ernst nehme und deshalb jede Kleinigkeit – jedes Heftpflaster, jede kleine Schnittwunde, jede Schürfwunde, jedes Stolpern – akribisch aufnehme, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden.

Abschliessend teilt das Unternehmen mit, man nehme die «Hinweise» von SonntagsBlick als Input auf, um die Mitarbeitenden in Domat/Ems generell besser zu informieren. Dies sei gerade bei einer ungünstigen Konjunkturlage wichtig, da naturgemäss schneller «eine gewisse Verunsicherung» entstehen könne.

Bemerkungen: Ems-Chemie behauptet, dass einige Bilder dieser Galerie zu viele Details des Produktionsprozesses preisgeben. Blick/SonntagsBlick kann das nicht nachvollziehen, hat sich aber dennoch bereit erklärt, die entsprechenden Bilder unscharf zu machen bzw. zu schwärzen. Des Weiteren weist Ems-Chemie darauf hin, dass es sich bei den gezeigten Anlagen nur um 3 von insgesamt rund 200 Anlagen auf dem Werkplatz Domat/Ems handle. Zudem hätten sich die Anlagen zum Zeitpunkt der Aufnahmen im Um- bzw. Ausbau befunden.

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