Experte Werner Vontobel ordnet ein
Traden ist das neue Arbeiten

Die grassierende Spekulationswut treibt Aktien, Bitcoins und Immobilien in die Höhe. Doch wenn alle das machen, was am meisten rentiert, sind wir morgen alle arm, warnt Blick-Kolumnist Werner Vontobel.
Publiziert: 03.07.2021 um 12:36 Uhr
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Aktualisiert: 07.07.2021 um 08:08 Uhr
Werner Vontobel

Inzwischen poppen sie im Internet schon fast im Minutentakt auf, die Erfolgsmenschen, die uns erklären, dass auch wir die Plackerei hinter uns lassen können, wenn wir auf Bitcoins setzen, in Immobilien investieren oder eine völlig neue Trading-Software nutzen. Meist sitzen diese neuen Vorbilder lässig am Steuer ihres Lamborghini oder posieren «vor einem meiner Helikopter».

Noch wird ihre Botschaft nicht von allen begriffen. Als ich neulich einen Termin bei meinem Augenarzt hatte, standen dort anstelle eines Trading-Floors immer noch die gewohnten ophthalmologischen Geräte. Auch mein Bäcker bäckt weiterhin seine Brötchen und in der Migros sitzen wie gewohnt Leute an der Kasse, statt hinter einem Trading-Screen, wo sie zehnmal produktiver sein könnten. Konsumieren die keine Internetwerbung? Oder traden sie vorerst nur nach Feierabend? Wetten, dass auch diese Hinterwäldler bald die Zeichen der Zeit erkennen.

Mühsame Arbeit war einmal

Klar. Vor einen Helikopter kann sich jeder stellen. Hochstapeln gehört zum Handwerk. Dennoch: Es ist etwas dran. Je mehr Leute auf Immobilien, Bitcoins oder Aktien wetten, desto höher steigen die Kurse. Allein die Marktkapitalisierung des SPI ist dieses Jahr bisher um 230 Milliarden hochgetrieben worden. Das entspricht etwa der Summe aller Arbeitseinkommen. Auch der Run auf die Immobilien trägt reiche Früchte: Der Wert der Schweizer Wohnimmobilien ist seit Ende 2018 um mehr als 400 Milliarden angeschwollen und auch die Kryptofreaks haben sich ins Zeug gelegt. Allein der Wert der Bitcoins ist innert der gleichen Zeitspanne um 550 Milliarden Dollar gestiegen. Mühsame Arbeit war einmal.

Blick-Kolumnist und Buchautor Werner Vontobel warnt vor zu viel Euphorie bei Investitionen in Aktien, Kryptowährungen und Immobilien.
Foto: Paul Seewer
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Die grassierende Spekulationswut hat in der Tat für viele sehr viel Kaufkraft geschaffen. Das ist die privatwirtschaftliche Realität. Die volkswirtschaftliche Realität sieht ganz anders aus: Bitcoins sind gigantische Stromfresser, das Traden ist eine Verschleuderung von Arbeit und mit den steigenden Immobilienpreisen wird massiv Kaufkraft von den Mietern zu den Grundbesitzern verschoben.

Kaufen Sie Ihren Helikopter, solange noch welche produziert werden

Doch hinter der glänzenden privatwirtschaftlichen Fassade die trübe volkswirtschaftliche Realität zu sehen, ist nicht jedermanns Sache. Das zeigt sich auch bei der Diskussion um das Rentensystem. Wegen der steigenden Lebenserwartung und den sinkenden Zinsen haben viele Pensionskassen die Beiträge deutlich erhöht. Nach der Überzeugung der «NZZ» müssten das nicht nur viele, sondern alle tun: «Viel logischer und fairer erscheint es, wenn Kassen, die ihre Hausaufgaben versäumt haben, allfällige Rentenzuschläge direkt mit Zusatzbeiträgen finanzieren müssen.»

Aus privatwirtschaftlicher Sicht ist das in der Tat logisch. Aus der volkswirtschaftlichen Optik sieht es aber ganz anders aus: Bereits jetzt spart die Schweiz jährlich netto gut 60 Milliarden Franken zu viel, wovon 37 Milliarden auf die Pensionskassen entfallen. Noch mehr zu sparen, bläht bloss die Börsen und Immobilienwerte noch mehr auf. Der Boom geht weiter, das Suchtpotenzial steigt. Bald werden alle nur noch traden statt zu arbeiten. Kaufen Sie Ihren Helikopter, solange noch welche produziert werden.

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