Explosives Familienduell in der Chemiebranche
Dottikon-Blocher sticht erstmals Ems-Blocher aus

Wachablösung: Nach Jahren des Verzichts hat Markus Blochers Dottikon ES einen Lauf – und die schwesterliche Ems-Chemie übertrumpft.
Publiziert: 02.08.2023 um 21:10 Uhr
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Aktualisiert: 15.01.2024 um 14:23 Uhr
Dirk Ruschmann
Bilanz

Morgens um sechs, bisweilen schon um fünf, wenn der Tag noch kaum wach ist, dreht Markus Blocher (52) die Lautstärke hoch. Rund 40 Minuten dauert die Fahrt vom Wohnort Wollerau nach Dottikon ins Werk, das reicht für die halbe «72 Seasons», die neue CD von Metallica; Blocher liebt Hardrock und Heavy Metal, bei Metallica besonders die tiefen Gitarrenriffs, das ist Musik, die man «mit dem Bauch hört». Die lädt ihn mit Power für den Arbeitstag auf, der wochentags selten vor 21 Uhr endet.

Gelegentlich nimmt er morgens einen seiner Söhne (er hat vier, dazu drei Töchter) mit, der bei Dottikon die Lehre macht. Lädt er Kunden nach dem Werksbesuch ins Restaurant ein, bleiben die oft unwillkürlich beim Parkplatz seiner Finanzchefin stehen: Die fährt einen schnittigen BMW-Sportler mit Hybridantrieb. Den halten sie für Blochers Auto. Doch er setzt die Gäste in einen Toyota.

So etwas wie eine Superreichen- oder CEO-Bugwelle kennt Markus Blocher nicht. Die Ärmel hochgekrempelt an seinem garantiert nicht massgeschneiderten Hemd, drei Stifte in der Brusttasche, kommt er selber zum Wachhäuschen am Werkstor und holt den Besucher ab. Das Gespräch führt er alleine, leistet sich weder PR-Helfer noch sonstige Berater, obwohl er vor Jahren selber bei McKinsey werkte – denn «die erzählen einem, was vor fünf Jahren mal aktuell war, und wenn man Pech hat, ist man der Letzte in der Runde».

Genau wie ihr Bruder ist Madgalena Martullo-Blocher (53) erfolreiche Unternehmerin.
Foto: keystone-sda.ch
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Martullo-Blocher lässt Schneehaufen aufschütten

Man kann mit ihm ausgiebig diskutieren, ob das Befolgen der «Absicht» im Schweizer Militärjargon das Gleiche meint wie die «Auftragstaktik» der deutschen Bundeswehr (vermutlich ja). Seine Armeekarriere beendete er als Hauptmann, weil Stabsoffiziere nicht mehr direkt bei der Truppe sind – und er die Fahrten im Kommandopanzer nicht missen wollte.

Vor rund einem Jahr, beim «Convoy to Remember» im Gedenken an alte Militärfahrzeuge, steuerte er einen Radschützenpanzer M113; er selbst hatte sich als Chauffeur angeboten. Die Besucher sollen gestaunt haben, wer sie da so souverän durchs Gelände gefräst hat.

Solche Vorlieben sind von seiner Schwester Magdalena Martullo-Blocher (53) nicht bekannt. Allüren kennt aber auch sie keine, wenn es ums Geschäft geht. Bei der Analystenkonferenz ihrer Ems-Chemie im Februar liess sie einen Schneehaufen im Zürcher Hotel Marriott aufschichten, berichtet ein Teilnehmer, um einen neuen Bohrer für Slalomstangen vorzuführen, «und natürlich schwingt sie dann selber das Gerät».

Artikel aus der «Bilanz»

Dieser Artikel wurde erstmals in der «Bilanz» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du unter bilanz.ch.

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Bei Fahrzeugen ist sie gern etwas grösser unterwegs als ihr Bruder: Nahestehende berichten, sie habe sich mehrfach günstige VW Phaetons als Occasionen zugelegt – Arbeitslimousinen, Chauffeur-pilotiert, für die Wege vom Wohnhaus in Meilen nach Domat/Ems ins Werk. Auch Martullo spart beim Fuhrpark, einfach eine Etage höher. Kürzlich liess sie jedoch verlauten, sie habe einen Porsche gekauft. Darin soll sie mit Vorliebe ihr Feriendomizil in Lenzerheide ansteuern.

Gespräch verweigert

Martullo wollte nicht mit BILANZ sprechen. Noch immer kommt sie nicht über einen angriffigen Artikel aus dem Jahr 2009 hinweg, den sie als rufschädigend empfand. Dass ausgerechnet sie, die als Unternehmerin und SVP-Nationalrätin gern zweihändig und grossflächig austeilt, beim Einstecken eineinhalb Jahrzehnte lang nicht über ihren Schatten springen mag, wirkt nicht allzu souverän.

Auch ihren Bruder hat BILANZ schon unsanft angefasst. 2018 schloss ein Porträt über ihn: «Nur stehen die Chancen schlecht, dass er sein Lebensziel eines Tages erreicht: die grosse Schwester in den Schatten zu stellen.» Ob er das präsent hatte oder nicht: Markus Blocher war zwar misstrauisch, aber zum Gespräch bereit.

War das Urteil damals angemessen, das Lebensziel korrekt diagnostiziert – und hat er es, gewollt oder ungewollt, womöglich inzwischen erreicht? Längst stellen sich die Fragen neu. Zwar ähneln sich Martullos Ems-Chemie und Blochers Dottikon ES nur auf den ersten Blick als Chemiefirmen – tatsächlich sind sie grundverschieden.

Fette Margen bei beiden Unternehmen

Hauptgeschäft der Ems sind Spezialkunststoffe und Techniken zu deren Anwendung, vor allem für Autohersteller, Dottikon hingegen entwickelt Prozesse zur Herstellung von Arzneimittel-Wirkstoffen für die Pharmaindustrie. Doch was solls: Vergleichen darf man bekanntlich alles. Nur gleichsetzen ist nicht erlaubt.

Letzteres wäre ohnehin schwierig, denn die Grössenunterschiede springen auf den ersten Blick ins Auge. Martullos Ems-Chemie erwirtschaftet mit rund vier Mal mehr Mitarbeitern als Blochers Dottikon nahezu acht Mal so viel Umsatz, fette Margen spielen beide Unternehmen ein (siehe Grafiken unten).

Auf den zweiten Blick zeigen sich die Unterschiede in der Performance – fairerweise in prozentualen Veränderungen ermittelt. So hat Markus Blocher seit 2005, dem Zeitpunkt der Abspaltung Dottikons von der Ems-Chemie, seinen Umsatz und die operativen Margen fast verdreifacht, Martullo hat beides «nur» rund verdoppelt.

«Specialist für Hazardous Reactions»

Dabei hat Ems, bis auf einen kleinen Rückgang während der Finanzkrise 2009, stabil wachsendes Geschäft bei schicken Gewinnen ausgewiesen, während sich Dottikon infolge dieser Krise durch ein langes Tal der Tränen mit deutlichen Einbrüchen und mehrere Jahre roter Zahlen kämpfen musste; beim Umsatz erreichte Dottikon erst im Frühjahr 2017 wieder das Vor-Finanzkrisen-Niveau.

Blocher hatte jedoch in der Zwischenzeit unverdrossen weiter investiert und sich konsequent als «Specialist für Hazardous Reactions», für sicherheitskritische chemische Prozesse, positioniert. «Eine einzigartige Stellung im gesamten CDMO-Markt» attestiert Pharmaexperte Daniel Buchta von der Zürcher Kantonalbank (ZKB) den Aargauern – eine CDMO, «eine Custom Development and Manufacturing Organization», ist eine ausgelagerte Werkbank für Pharmahersteller, Multis wie Start-ups, denen diese CDMO die Suche der richtigen Syntheseroute, die Entwicklung eines Herstellprozesses und schliesslich des fertigen Wirkstoffs, der «Drug Substance», abnimmt, bisweilen auch noch die Produktion bis hinein in die Pillenschachtel, «Drug Products» genannt.

Letzteres findet in Dottikon nicht statt – denn macht man «Drug Products», sagt Blocher, kommen Themen wie Filling, Formulating und Blistering hinzu, «das ist Physik». Er beschränkt sich lieber auf die Chemie, statt die Wirkstoffe noch durch Zugabe von Zusatzstoffen zu formulieren, Pillen zu pressen und sie dann in Schachteln zu verpacken.

Wachablösung

Vor allem in den zurückliegenden drei Jahren ging bei Dottikon die Post ab. Trotz nach wie vor hohen Investitionen schnellten Wachstum und Margen aufwärts, und der Aktienkurs vollzog den Aufschwung nach: Nach jahrelang hoffnungslosem Hinterherhecheln hat Dottikon inzwischen im Langzeitvergleich die Ems überholt und seit 2020 regelrecht stehen lassen. Ems ist an der Börse knapp sieben Mal ihren Umsatz wert, Dottikon kommt auf gut das Zehnfache.

Passend dazu zeigen die Gewinnschätzungen der Analystengemeinde für die Ems in Summe südwärts, für Dottikon hingegen nach oben. Sichtbarste Erfolgskontrolle ist die operative Gewinnmarge, die Dottikon nun auf haargenau 30 Prozent geschraubt hat – und damit erstmals, zudem deutlich, die Ems-Chemie übertrumpft. Man könnte es als Wachablösung bezeichnen.

Markus Blochers Dottikon spezialisiert sich auf «sicherheitskritische Reaktionen», etwa solche, bei denen grosse Mengen Energie frei werden. Oder solche mit Chemikalien, die mit Luft oder Wasser heftig reagieren und in Brand geraten können. Oder potente Wirkstoffe, vor denen Arbeiter im Werk vor kleinsten Mengen geschützt werden müssen. Oder Verbindungen oder Mischungen, die auf Schläge, Reibung, Hitze oder mit Funken wie Sprengstoffe reagieren. Zudem konzentriert sich Dottikon auf den Wirkstoffsektor «Small Molecules», die den Vorteil haben, oft per Pille eingenommen werden zu können.

Im gleichnamigen Dorf im Aargau liegt der einzige Firmenstandort. Es ist noch viel Fläche frei.

Raum für weiteres Wachstum besteht

Bei den neueren Sektoren der biologischen oder genetischen Wirkstoffe, wo etwa Lonza aktiv ist, muss eher zur Spritze gegriffen werden, zudem können diese grösseren Molekülverbindungen nicht ohne Weiteres die Schranke vom Blut ins Gehirn überwinden – auch wenn sie dort bei neuralen Krankheiten erwünscht wären.

«In unserer Branche lautet das Stichwort SMASH», sagt Blocher: «Small Molecules are still hot»: Sie sind nach Umsatz und Anzahl nach wie vor die mit Abstand grösste Medikamentenklasse, ihr Weltmarkt wächst jährlich mit rund fünf Prozent, und den für CDMOs wie Dottikon greifbaren Teil davon schätzt die ZKB auf über 50 Milliarden Franken – Raum für weiteres Wachstum besteht also.

Zumal längst klar ist, dass sich Blochers Langfristprognose bewahrheitet: Schon vor einem Jahrzehnt hatte er erkannt, dass die westlichen Pharmafirmen Produktionsschritte, ausgelagert an asiatische, vor allem chinesische Firmen, künftig zurückholen würden; «Reshoring» lautet sein Stichwort. Einerseits gehe es grundsätzlich darum, die Abhängigkeit von China zu verringern – Trump habe das China-Thema aufs Tapet gebracht, Biden es später weitergeführt, «inzwischen sind die US-Pharmafirmen für das Thema sensibilisiert», sagt Blocher.

Andererseits besteht bei zahlreichen asiatischen Produktionsstätten ein Hygiene- und Qualitätsproblem, sodass die US-Arzneimittelbehörde FDA viele vom Markt ausschloss. Analysen dieser Flughöhe liefert Blocher regelmässig in den Vorworten zu seinen Geschäftsberichten, höchstselbst recherchiert und verfasst – diese Texte hätten «viele Fans in der Finanzgemeinde», sagt der Zuger Fondsmanager und KMU-Investor Marc Possa, denn sie gäben «einen exzellenten geostrategischen Abriss über weltwirtschaftliche Fragen».

Ausbauschritte

Mit seinen Investments hat Blocher auf diesen Trend gesetzt. Und nun baut er wieder aus; eine chemische «Mehrzweckanlage» entsteht in Dottikon. Die kann heizen, kühlen, Über- und Unterdruck erzeugen, stark saure oder basische oder andere spezielle Mischungen verarbeiten und einiges mehr; ihre Kapazitäten, heisst es bei Beobachtern, dürften schon zu grossen Teilen an Kunden verkauft sein. Für den möglichen zweiten, praktisch gleichen Ausbauschritt ist die Gebäudehülle bereits gebaut.

Investitionsprojekte zwischen 700 und 800 Millionen Franken hat Blocher zurzeit und in den kommenden Jahren am Laufen. Mit seiner Expansion ist Dottikon eine Ausnahme in der Branche; Lonza wendet sich biologischen Wirkstoffen zu, Siegfried setzt eher auf Akquisitionen, Bachem hat sich auf das Nischengebiet Peptide fokussiert, und: Nicht alle verstünden den «Reshoring»-Trend, sagt Analyst Daniel Buchta. «Es wird noch einige Jahre dauern, bis alle Player merken, dass in diesem Markt eine Knappheit besteht.»

Dass Blocher bei den Margen Zug nach Norden aufweist, liegt einerseits an seiner Preissetzungsmacht als Nischenanbieter. Aber auch an «harter Arbeit von vielen», sagt er: «Dass alle 700 Mitarbeiter mitziehen, jedes einzelne Wertschöpfungselement auf die Strategie auszurichten.»

Auch er wendet die «sieben Denkschritte» der Problemlösung an, die als «Seven Thinking Steps» dank seiner Schwester TV-Karriere gemacht haben. Zentrales Erfolgsrezept sei die Entwicklungsarbeit mit den Auftraggebern. «Wir sagen Kunden klar, was wir glauben, dass das Richtige für sie und den Erfolg ihrer Strategie ist.»

Geheimniskrämerei

Was zugleich bedeute: «Statt blind umzusetzen, was der Kunde bestellen möchte, arbeiten wir mit ihm gemeinsam den besten Weg aus und diskutieren das intensiv.» Politisch sei das heikel, weil bei Kundenfirmen manche Manager Schrammen davontragen.

Doch «ich bin überzeugt: Nur die beste Lösung überlebt langfristig.» Das Ziel sei «Leistungsführerschaft»: dem Kunden mehr Wert verschaffen als die Konkurrenz. Was genau übrigens Dottikon in ihren Kesseln braut, sagt Blocher nicht – die Geheimniskrämerei in der CDMO-Branche ist legendär: Nicht die Zulieferer, die Auftraggeber sollen glänzen.

Als Chef, sagen Insider, sei Blocher nahe an der Front – und zu Hause nahe an der Basis. «Ich bin im Betrieb bei den Anlagen und meinen Leuten, ich esse immer in der Kantine und treffe Leute an der Kaffeemaschine», sagt er, ausserdem «sehe ich aus meinem Bürofenster, was die Lastwagen anliefern» durch das Haupttor. Genauso hatte es Enzo Ferrari in Maranello gehalten.

Selber Pralinen gemacht

Dass sich das Unternehmen auf einen einzigen Standort, Dottikon, beschränkt, hat seine Vorteile: kurze Wege, schnelle Entscheide, deutsche Sprache und echtes Miteinander des Teams. In der Konzernleitung sitzen einige regelrechte Dottikon-Veteranen, Finanzchefin Marlene Born ist seit 18 Jahren in der Firma. Bei Ems-Chemie hingegen gibt es gerade auf dem wichtigen CFO-Posten ein Kommen und Gehen; Insider sagen, Martullo habe Mühe, Topleute zu rekrutieren. Denn bei Ems müsse man «24/7 und 365» zum Einsatz bereitstehen. Dem früheren VR-Präsidenten Ulf Berg gebührte gar einmal die Ehre, berichtet ein Teilnehmer, bei einer Veranstaltung Glace zu servieren. Und in Domat/Ems bleibe man, heisst es, konsequent beim «Sie».

In Markus Blochers Führungsteam hingegen duzen sich alle, Untergebene können es halten, wie sie mögen. Firmenfeste reichen von Hardrock-Konzert über Buure-Zmorge, Karibik-Zeltfest bis zum Candlelight Dinner in einer Waldlichtung, die er natürlich selber auf Google Maps in der Umgebung aufgespürt hat. Als süsses Give-away kreierte er mit einem lokalen Confiseur «Dottikonerli»: Schoko-Pralinés, die im Mund kühlen, prickeln oder explodieren, ganz wie die Reagenzien im Werk.

Alles im Aargau – das birgt aber auch Risiken. Neue Leute für das wachsende Geschäft anzulocken, ist eine Herausforderung – allerdings eine, die Dottikon mit Lonza, Bachem und Siegfried teilt, jedenfalls an deren Schweizer Standorten. Branchenleute berichten von gelegentlichen Abwerbetouren. Ein Ausweg wäre die Internationalisierung, doch ob Dottikons Firmenkultur eine solche ohne Schaden überstünde, bezweifeln Insider. Geplant ist sie ohnehin nicht.

Bremsspuren

Im Fall des einstigen Mutterkonzerns Ems-Chemie herrscht punkto Wachstumsaussichten, vornehm gesagt, ein gemischtes Meinungsbild. Ihre Hochleistungskunststoffe verkauft Martullo zu mehr als 60 Prozent der Automobilindustrie – und die schwächelt gerade, befindet sich ausserdem im Umbruch Richtung E-Mobilität. Daher zeigen sich in Martullos Ergebnissen heftige Bremsspuren. Bereits zwei Gewinnwarnungen musste sie aussprechen.

Doch Wettbewerber wie Evonik, Lanxess und BASF folgten, und dass Martullo die Erste war, sehen Beobachter als Leistungsausweis: Sie habe mit ihren Key-Account-Teams Nasen und Ohren so nah an den Kunden und innerhalb der Ems so tief in den Projekten, pflege zudem «eine sehr flache Hierarchie», weiss Ems-Spezialist Philipp Gamper von der ZKB, dass sie Entwicklungen früher als andere kommen sehe. Ihre Stärke, sagt Gamper, sei, «im Kopf wendig zu sein», ihr «Hunger auf neues Geschäft».

Gamper ist optimistisch: In einer umfangreichen Studie hat er nachgewiesen, dass Elektroautos zwar grundsätzlich weniger Material benötigen als Verbrenner, aber dank Batterien, Stecker oder Kühlventilen 15 Prozent mehr Ems-Teile in Stromern verbaut werden könnten als in Dieseln und Benzinern.

Schlankheitsideale

Der Schlüssel sei, «bei Innovationen ahead of the curve» zu bleiben». Also bisherige Anwendungen wie Dichten, Kleben, Dämpfen oder den Ersatz von Metall durch gewichtssparende Kunststoffe nicht zu vernachlässigen, aber weitere im Umfeld von Batterie, Antrieb oder Temperaturmanagement zu entwickeln. Ausserhalb der Autobranche finden sich Ems-Produkte etwa in Kaffeemaschinen, Skischuhen oder Sportbrillen – angeblich sollen mehr als 90 Prozent aller Skibrillen mit Kunststoffgranulat von Ems gefertigt sein.

Die Organisation von Ems als «schlank» zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Nur vier Verwaltungsräte zählt der Konzern, darunter Vizepräsidentin und Delegierte Martullo, und die internen Prozesse, etwa im Reporting und Controlling, gelten als ungewöhnlich schlicht und verknappt. Der Fokus, sagt Marc Possa, liege auf der unbedingten Erfüllung der Kundenwünsche: Für jeden werde bei Ems in einer Pilotanlage der Herstellungsweg «entwickelt und verfestigt», gefolgt von der Skalierung in den industriellen Massstab.

In Domat/Ems hat Martullo-Blocher kräftig investiert, betreibt aber Standorte auf der ganzen Welt.
Foto: keystone-sda.ch

Zwischen «preussisch» und «militärisch»

Die spezielle Arbeitsatmosphäre bei Ems-Chemie war ZKB-Analyst Gamper mehrere Seiten seiner Studie wert; eine Ausnahme im Bankenresearch. Gamper schreibt: «Der fordernde Stil, die Härte und Direktheit bis hin zu einer gewissen Rücksichtslosigkeit» liessen Rückschlüsse auf die Anforderungen bei der Ems zu – die er positiv sieht: Das Klima sei «sachbezogen» und «nüchtern», es gebe «wenig Konzernpolitik, keine selbstherrlichen Landesfürsten» und keinen CEO, der sich selber vermarkten müsse.

Vielmehr bestehe für die Mitarbeiter eine «grosse Freiheit bei der Herangehensweise, um die gesteckten Ziele zu erreichen, aber die Erreichung selbst ist nicht verhandelbar». Heisst: Martullos Führungsstil «ist Teil des Erfolgsmodells». Dass das nicht für alle Untergebenen passt, ist nur logisch. Bei Bewertungsplattformen wie «Glassdoor» kritisieren nicht wenige «extremen Druck» oder «fehlende Wertschätzung». Ehemalige Kader witzeln im kleinen Kreis zudem gern über Martullos «Management by Bundesordner». Digitalisierung und Ems, das seien keine Freunde.

Wer sich in der Finanzgemeinde umhört, erhält für Magdalena Martullo und Markus Blocher ähnlich klingende Einschätzungen: Beide seien «sehr gute Manager», zielgerichtet, unverkrampft, hands-on, nicht abgehoben, irgendwo zwischen «preussisch» und «militärisch» im Führungsverhalten, zudem messerscharfe Analytiker, und, urteilt Marc Possa, «beide sagen, was und wie es ist, sie wollen und müssen keinem gefallen».

Mit Eigenkapitalquoten von rund 80 Prozent demonstrieren beide zudem ein gewisses Fremdeln mit dem Kapitalmarkt: «Die sehen uns als Trittbrettfahrer», klagt ein Profi-Investor. Dass Markus Blocher bei seinem kürzlich durchgeführten Aktiendeal, als er 7,6 Prozent der Dottikon-Papiere am Markt anbot, den Preis partout nicht unter 260 Franken senken wollte, stiess auf Naserümpfen bei diversen Investoren – Aktien oberhalb des Marktpreises anzubieten, sei «höchst ungewöhnlich».

Verkaufen konnte Blocher letztlich 2,4 Prozent. Und als er bei einem Event seine Stakeholder-Prioritätenliste präsentierte, ganz vorne Kunden und Mitarbeiter, dann Behörden, Stiftungen, Vereine, alle noch vor den Aktionären – auch da waren nicht alle amüsiert.

Altersvorsorge

Dem 52-Jährigen ist bewusst, dass er langfristig Handlungsbedarf hat: beim Aktienbesitz, Stichwort Free Float, sowie bei der Corporate Governance, wo er, der CEO, einen nur dreiköpfigen Verwaltungsrat präsidiert. Er werde «öffnen müssen», denn bei sieben Kindern «wird keins allein die Kontrollmehrheit wie ich haben können». Sieben Kinder, lacht er, «bezeichne ich als afrikanische Altersvorsorge». Vorerst könnte er mit seiner Beteiligung, aktuell gut 65 Prozent, «bis auf 60 Prozent heruntergehen». Doch beim Preis bleibt er hart: «Unter 260 Franken werde ich sicher nichts verkaufen.» Derzeit notiert die Aktie 20 Franken tiefer.

Das Störrische, auch den militärisch-zackigen Führungsstil haben die Geschwister wohl von Vater Christoph Blocher geerbt. Auch dass beide ein eher kühles Verhältnis pflegen, geht wohl auf ihn zurück: Als er 2003 überraschend zum Bundesrat gewählt wurde und die Ems-Chemie abgab, ernannte er Magdalena zur Chefin, Markus zum Leiter der Ems-Tochter Dottikon – die Marketingfrau avancierte zur Gesamtleiterin der Chemiefirma, der promovierte Chemiker war ihr unterstellt, bis 2005 die Abspaltung erfolgte.

Markus Blocher verkaufte seine Ems-Aktien, sammelte im Gegenzug bei den Geschwistern Dottikon-Papiere ein; heute ist noch Schwester Miriam mit rund fünf Prozent bei ihm investiert, auch Mutter Silvia soll Aktien halten. Die Startchancen konnten kaum ungleicher sein: Martullo führte eine gut geölte Cash-Maschine, konnte sich bis heute geschätzt eine halbe Milliarde Franken Dividenden zahlen.

ZKB sieht grosses Potenzial

Blocher baute eine Firma auf, verzichtete fast komplett auf Dividenden und investierte alles in Wachstum, auch aktuell «haben wir nicht vor, Dividenden auszuschütten», bekräftigt er. Zudem begnügt er sich mit einem Jahressalär von 700 000 Franken, sie genehmigt sich nahezu das Doppelte – der Pokal für den Sieger der Herzen ist ihm sicher.

Martullo hat sich mit ihrer Strategie der Margenmaximierung bei den Kunden nicht nur Freunde gemacht. Die gebeutelten Autobauer sehen es nicht gern, wenn ein Lieferant klotzige Gewinne einfährt. «Natürlich beobachten wir das», bestätigt ein Topmanager eines deutschen Konzerns – wer Alternativen zu den unbestritten hervorragenden Ems-Kunststoffen finde, überlege sich schnell einen Wechsel.

Ein Insider sagt glasklar: «Punkto Margen ist die Zitrone ausgepresst.» Die bald 54-Jährige müsse nun den Satz ihres Vaters beherzigen, der einst im kleinen Kreis sagte: «Ems ist eine Fabrik, und die muss sich alle paar Jahre neu erfinden.» Immerhin, beim Umsatz halten die Analytiker der Baader Bank innert einem Jahrzehnt eine Verdoppelung für möglich.
Erntearbeiten

Für Dottikon ortet die ZKB sogar das Potenzial zur Vervierfachung, auf 1,3 Milliarden Franken; solche Volumina ziehen auch internationale Anleger an. Und bei den Margen achtet Dottikon selbst darauf, nicht mehr zu verdienen als die Kunden. Doch inmitten der lukrativen Pharmabranche besteht noch Spielraum nach oben.

Jetzt erntet er die Früchte

Die Blocher-Geschwister: viele Ähnlichkeiten bei teils deutlichen Unterschieden. Sein Dottikon-Anteil ist heute 2,2 Milliarden Franken wert, Martullos Ems-Paket gut fünf Milliarden. Ein Nahestehender sagt, Markus sei der Konziliantere, breiter interessiert, belesen zudem. «Müsste ich für ein Nachtessen wählen, ich würde mich für ihn entscheiden.»

Für Blocher geht es nun in seinem wachsenden Markt um gute Exekution, mehr vom Gleichen. Er «erntet heute die Früchte seiner Managementleistung», sagt ZKB-Mann Buchta, «das dürfte noch über Jahre so weitergehen». Interessant könnte es werden, wenn Dottikons Minisparte «Performance Chemicals» abhebt, «das ist im Moment ein Hobby, wir verdienen noch kein Geld», wiegelt Blocher zwar ab.

Doch darin steckt Potenzial, das er in den Anfangsjahren noch nicht erkannt hatte: «Mit neuartigen Dottikon-Molekülen die Performance-Eigenschaften von Kunststoffen zu verbessern.» Das würde heissen: Dottikon tritt gegen Ems an.

Auch musikalisch hat er einiges vor. Die Trompete setzt zwar Staub an, aber «E-Gitarre würde ich gern können, und wenn ich mal in Rente bin, möchte ich Schwyzerörgeli lernen». Ein Hardrocker, der Ländler aufspielt: Von Markus Blocher wird man noch einiges zu hören bekommen.

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