Wenn Zügeln in die Armut führt – 3 Schicksalsgeschichten
«Wir können unseren Kindern nichts bieten»

Wer wenig Geld hat, ist immer auf der Suche nach einer günstigeren Wohnung. Doch Zügeln kostet. Bei diesen drei Dilemmas konnte SOS Beobachter helfen, die Situation zu lösen.
Publiziert: 28.06.2024 um 18:44 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2024 um 19:00 Uhr
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Daniel Benz und Jasmine Helbling
Beobachter

Man sollte meinen, Fr. 738.40 seien für eine Gemeinde ein Pappenstiel. Für die alleinerziehende Mutter Daniela Balzli ist es ein solcher Betrag ganz sicher nicht. «Unvorhergesehene Kosten in dieser Höhe liegen einfach nicht drin, wenn man sonst schon knapp dran ist», sagt sie.

Die Rechnung über die gut 700 Franken war bei der 44-Jährigen wegen eines Formfehlers hängengeblieben: Sie hatte es verpasst, nach dem Umzug nach Lyss im Berner Seeland fristgerecht neue Betreuungsgutscheine zu beantragen. Die Vergünstigung für die Betreuung ihrer Tochter bei einer Tagesmutter war Balzli für die Monate Juni und Juli 2022 zwar zugesichert – jedoch nur für den bisherigen Wohnort Münchenbuchsee BE. Das erfuhr sie erst, als es zu spät war.

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In den Gemeindehäusern von Münchenbuchsee und Lyss berief man sich auf die kantonale Gesetzgebung. Diese sieht vor, dass Betreuungsgutscheine am aktuellen Wohnsitz ausgestellt werden müssen. Zu Kulanz – Stichwort Pappenstiel – war man weder hüben noch drüben bereit, und so sollte das schwächste Glied der Kette in den sauren Apfel beissen. Daniela Balzli, als Coiffeuse mit Teilzeitpensum nicht auf Rosen gebettet, geriet in die Bredouille.

Weil sie besonders stark auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, ziehen Armutsbetroffene häufiger um als Normalverdienende.
Foto: Keystone
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50 Prozent des Einkommens für Wohnkosten

Das Beispiel zeigt: Wenn es ums Wohnen geht, lauern überall finanzielle Fallen – auch dort, wo man sie nicht vermuten würde. Tappen Armutsbetroffene hinein, sind die Folgen angesichts der steigenden Mietzinse und Nebenkosten oft fatal.

Dies bestätigt Aline Masé, Leiterin Sozialpolitik bei der Caritas. Wohnen sei nichts, auf das man einfach verzichten könnte. «Also gibt man notgedrungen aus, was nötig ist – aber dann wird es für alles andere umso knapper.» Für viele Menschen mit geringem Budget sei die Situation untragbar. Nicht umsonst ist die Wohnungskrise das aktuelle Schwerpunktthema der Caritas Schweiz.

Gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe verschlingen die Wohnkosten bei vier von fünf armutsbetroffenen Haushalten mehr als 30 Prozent des Bruttoeinkommens. Das liegt deutlich über der Empfehlung des Dachverbands Budgetberatung Schweiz, wonach die Ausgaben fürs Wohnen nicht mehr als einen Viertel der Nettoeinnahmen betragen sollten. Der von der Hochschule Luzern entwickelte Rechner Nachfragemonitor.ch weist je nach Wohnort und familiärer Situation sogar Belastungen von 50 Prozent und mehr aus. Da braucht es nicht mehr viel, bis es ein Budget sprengt.

Weil sie besonders stark auf günstigen Wohnraum angewiesen sind, ziehen Armutsbetroffene häufiger um als Normalverdienende. Das kann dazu führen, dass durch die Züglete kurzfristig Notsituationen entstehen. Wie soll eine Mietkaution im Umfang von drei Monatsmieten aufgebracht werden, wenn keine Reserven da sind? Was, wenn es beim Wechsel in eine weniger teure Wohnung so schnell gehen muss, dass vorübergehend zwei Mieten gleichzeitig fällig werden? Oder wenn am neuen Ort andere Regeln gelten als am alten, wie bei den Betreuungsgutscheinen von Daniela Balzli?

Viele schämen sich, nach Geld zu fragen

In ihrem Fall sprang SOS Beobachter in die Bresche und übernahm die Fr. 738.40 für die ungedeckten Kosten der externen Betreuung. Eine «riesige Erleichterung» für die Bernerin, die teils bis spät in die Nacht arbeitet und ihre heute 16-jährige Tochter deshalb lange fremdbetreuen lassen musste.

Dass eine gemeinnützige Stiftung für etwas aufkommt, vor dem sich zwei Gemeinden drücken konnten, ärgert Daniela Balzli. «Alle haben mir bestätigt, dass ich die Vergünstigungen zugut habe – nur bezahlen wollte niemand.» Weil sie sich unfair behandelt fühlte, reichte sie Beschwerde beim Regierungsstatthalteramt Seeland ein. Erfolglos.

Daniela Balzli – Markenzeichen knallrote Haare – sagt über sich: «Auf andere angewiesen zu sein, mag ich eigentlich gar nicht.» Deshalb hatte sie zeitweise drei Jobs gleichzeitig, um als Alleinerziehende ohne Sozialhilfe durchzukommen. SOS Beobachter um Unterstützung zu bitten, brauchte Überwindung. «Denn dabei wird einem vor Augen geführt, wie wenig man hat. Das ist nicht angenehm.» Rund 15 Prozent aller bei der Stiftung eingehenden Unterstützungsgesuche stehen im Zusammenhang mit Wohnen oder Umziehen, sagt Beat Handschin, Geschäftsführer von SOS Beobachter.

Allein dieser Wert verdeutlicht, wie weit oben das Thema auf dem Sorgenbarometer der rund 600'000 Menschen steht, die in der Schweiz von Armut betroffen sind. «Es ist noch immer mit viel Scham verbunden, nach Geld zu fragen», so Handschin. Dabei könne es jeden treffen. «Manchmal schneller, als man denkt.»

Höhere Nebenkosten, gleiche Sozialhilfe

Kurz nach dem Mittag wirkt Langenthal BE verschlafen. Daja Ibrahim trägt kochenden Kaffee aus der Küche; viel Zucker darin, Gebäck daneben. Im Wohnzimmer hängen Bilder von Blumen, auf dem Boden liegt ein kunstvoller Teppich.

«Jedes Familienmitglied hat 300 Franken pro Monat zur Verfügung»: Esat Ibrahim (Name geändert)
Foto: Joël Hunn

Nichts deutet darauf hin, dass die Familie erst vor einer Woche eingezogen ist. «In der Wohnung vielleicht nicht, aber hier drin», sagt Esat Ibrahim und deutet auf die Brust. «Ich bin noch immer erschöpft.» Es ist der dritte Umzug in sechs Jahren. Die erste Wohnung war zu klein, die zweite zu teuer.

Die Ibrahims heissen eigentlich anders. Sie wollen nicht erkannt oder verurteilt werden. Vor sechs Jahren sind sie aus Syrien geflüchtet, ihr Aufenthaltsstatus ist F. Die älteste Tochter schliesst im Sommer die Ausbildung zur Pflegefachfrau ab, die drei jüngeren Geschwister gehen noch zur Schule. Daja ist Hausfrau, Esat Schuhmacher. In der Schweiz hat er zwei Praktika gemacht, findet aber keine Festanstellung.

Hohe Stromrechnung – dann ging es nicht mehr

«Wir sind dankbar», betont er. Für ein Leben ohne Krieg, die Unterstützung von der Sozialhilfe und von Stiftungen. Und doch reiche das Geld kaum zum Leben. «Jedes Familienmitglied hat 300 Franken pro Monat zur Verfügung. Wenn ein Kind zur Ärztin muss oder neue Schuhe braucht, wird es schwierig.»

Im letzten Jahr hat sich das Problem verschärft. Die Preise für Essen und Energie sind gestiegen, der Grundbetrag der Sozialhilfe blieb gleich. Dann kam eine Stromrechnung, die es in sich hatte: über 600 Franken für drei Monate – 40 Prozent höher als gewöhnlich. Eine Familienbegleiterin riet dem Paar, ein Gesuch bei SOS Beobachter zu stellen.

Es wurde bewilligt, weil sich eine langfristige Lösung abzeichnete: Die neue Wohnung ist besser isoliert und moderner ausgestattet. Für den Moment sind die Existenzsorgen weg, das schlechte Gewissen bleibt: «Wir können unseren Kindern nichts bieten.» Hier herrsche kein Krieg, trotzdem fühlten sie sich wie eingesperrt. Beide nicken – bevor sie wieder betonen, wie dankbar sie sind.

«Armut und Einsamkeit gehen Hand in Hand»

Die Ibrahims sind nicht die Einzigen, die von hohen Nebenkosten überrascht wurden. Bei SOS Beobachter gingen 2023 mehr Gesuche dazu ein als in früheren Jahren. Viele Armutsbetroffene würden zwar extra Rücklagen machen, sagt Geschäftsführer Beat Handschin. «Wenn die Rechnungen dann höher als erwartet ausfallen, kann das ein Schock sein.» In Momenten, in denen man weder ein noch aus weiss, hilft ein Umfeld, mit dem man seine finanziellen Sorgen teilen kann. Aber solche persönlichen Netzwerke fehlen häufig: «Armut und Einsamkeit gehen vielfach Hand in Hand», so Handschin.

Und manchmal geht das Netzwerk gerade durch den Umzug verloren. Soziale Folgen, sagt Aline Masé von der Caritas, können genauso einschneidend sein wie finanzielle: «Wir haben oft mit Alleinerziehenden zu tun, die sich ein Unterstützungssystem aufgebaut haben: Nachbarinnen kochen und hüten Kinder, Freunde helfen aus. Wer in eine neue Gegend ziehen muss, verliert weit mehr als ein Zuhause.»

SOS Beobachter verschafft Luft

Seit letztem Sommer wohnt Nina Kuster, die eigentlich anders heisst, mit ihrem Mischlingspudel in einer Einzimmerwohnung in Zürich-Wipkingen. Bei schönem Wetter tauscht sie ihren Rollstuhl mit dem Hocker auf dem Balkon – oder fährt in die Stadt.

Irgendwann wurde ihr alles zu viel: Nina Kuster (Name geändert)
Foto: Joël Hunn

Vor drei Jahren stellte sich heraus, dass die 57-Jährige an einer seltenen Form der Paraplegie leidet. «Zuvor musste ich mich über 30 Jahre rechtfertigen und erklären.»

2017 sei ihr alles zu viel geworden: die Odyssee mit Ärzten, Versicherungen und Behörden. Das Zurückstellen der eigenen Bedürfnisse. «Meine Kinder kamen immer an erster Stelle. Ich war nicht mehr Nina, nur noch Mutter.»

Erschöpfung bis zum Klinikaufenthalt

Irgendwann gingen Rechnungen vergessen, die alleinerziehende Mutter verlor ihre Wohnung, die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde wurde involviert. Da entschied sich Nina Kuster für einen Klinikaufenthalt – «anders ging es nicht». Diagnose: eine posttraumatische Belastungsstörung. Die Kinder, da schon junge Erwachsene, fanden zusammen eine neue Bleibe.

In den folgenden Jahren zog Kuster zweimal um. Erst nach Kloten, dann in die aktuelle Wohnung, wo es ihr endlich besser geht. Die neue Umgebung passt, Sport sei ihr Antrieb geworden. «Rollstuhl-Skating, Rudern, Basketball oder Bogenschiessen – das alles tut mir mental und körperlich gut.»

SOS Beobachter zahlt Lagerkosten für Rollstuhl

Ein Wermutstropfen bleibt: In den Keller passt nicht einmal der Sportrollstuhl. Kuster besitzt zwar einen Lagerraum, der ist aber randvoll mit Erinnerungen und persönlichen Dingen ihrer Kinder. Beim Umzug nach Wipkingen musste eine schnelle Lösung her: Die Sportgeräte wurden bei der Zügelfirma eingelagert. Das kostet – zu viel für die 57-Jährige. Mit ihrer Invalidenrente und der Hilflosenentschädigung kommt sie nur knapp über die Runden. SOS Beobachter half aus und übernahm die Lagerkosten von rund 1300 Franken. «Das verschaffte mir Luft», sagt Kuster. Ihr nächstes Projekt: die Lagerräumung. Altes loslassen und Platz für Neues schaffen.

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