Grosser Interview mit Schweiz-Tourismus-Chef Martin Nydegger
«Einer von 1000 Touristen nervt»

Es ist Sommerzeit. Es ist Ferienzeit. Keiner kennt das Geschäft mit dem Fernweh besser als der Schweiz-Tourismus-Direktor Martin Nydegger (53). Ein Gespräch über launiges Wetter, Reisetrends und den Massentourismus.
Publiziert: 03.08.2024 um 11:19 Uhr
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Aktualisiert: 05.08.2024 um 12:04 Uhr
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Janine Urech
Schweizer Illustrierte

Martin Nydegger, was sind für Sie geniale Ferien?
Wenn ich zurückkomme und dann zwei, drei Tage lang so richtig den Blues habe. Wenn ich am Montag gleich wieder loslegen kann, wie wenn nichts gewesen wäre, dann ist etwas nicht in Ordnung.

Wohin reisen Sie denn am liebsten?
Ich habe das Glück, durch meinen Job oft in der Schweiz herumzureisen. Manchmal hänge ich privat noch ein Wochenende an. Das Schöne an der Schweiz ist, dass sie so vielseitig ist. Wenn ich etwa in der Romandie bin, werde ich zum urbanen Fan. Genf finde ich eine sagenhafte Stadt. Sonst bin ich eher der Bergtyp. Das hat mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich bin ein Bauernsohn. Mir ist es vor allem in der Natur wohl.

Aber Sie reisen sicher auch ab und zu für Ferien ins Ausland?
Selbstverständlich. Ich finde das auch richtig. Meine Partnerin ist aus Brasilien, aus Rio de Janeiro. Letzten Herbst waren wir dort. Eine wahnsinnig schöne, beeindruckende Stadt. Und es gab viel weniger Touristen als erwartet.

Ein Schweizer Hotspot der lukullischen Art: der Chef von Schweiz Tourismus im Zürcher Uferrestaurant Seerose.
Foto: Geri Born
Artikel aus der «Schweizer Illustrierten»

Dieser Artikel wurde erstmals in der der «Schweizer Illustrierten» publiziert. Weitere spannende Artikel findest du auf www.schweizer-illustrierte.ch.

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Wenn Sie in der Schweiz privat unterwegs sind, können Sie überhaupt abschalten, oder überlegen Sie sich ständig, was man noch verbessern könnte?
Ich bin total gefangen in meiner «déformation professionelle». Das ist aber kein Problem. Es ist ja nicht so, dass es bei meinem Job um ein schwieriges Thema geht. Es geht um Freizeit und Ferien. Ausserdem wäre es arrogant, wenn ich einem Hotelier sagen würde, heute reden wir nicht über Tourismus, sondern ich bin einfach nur Tourist. Das würde mir nicht im Traum einfallen.

Das Wallis und das Tessin wurden kürzlich von dramatischen Unwettern erschüttert. Waren Sie vor Ort, um sich ein Bild über das Ausmass zu machen?
Nein, ich war nie vor Ort, und zwar absichtlich nicht. Ich glaube, das Letzte, was sie brauchten, war ein Touristiker, der auch noch herumstolpert. Die Logistik, die Organisation und die baulichen Instandsetzungen waren die Aufgaben der Behörden. Aber ich war im engen Austausch mit den Touristikern der betroffenen Gebiete. Sie haben das super gemacht und dafür gesorgt, dass die Gäste die richtigen Informationen bekommen.

Was braucht es nun, um wieder Gäste in diese Regionen zu holen?
Es ist schon erstaunlich, wie schnell der Tourismus reagiert. Es gab sicher Stornierungen. Aber die Menschen können gut abstrahieren. Sie haben schnell gemerkt, wo man trotzdem in diesen Regionen Ferien machen kann. Denn es war ja nicht das gesamte Wallis oder das gesamte Tessin betroffen. Das ist der Vorteil der digitalen Kanäle: Man kann sehr präzise lokalisieren, wo etwas passiert ist und wo es unbedenklich ist.

Wie wirkt sich das launenhafte Wetter auf den Schweizer Tourismus aus?
Der Frühling war sehr schwankend – bis in den Juni. Wir können unverkaufte Hotelbetten nicht ins Lager stellen und am nächsten Tag zu Geld machen. Jede nicht verkaufte Nacht ist verloren. Das können wir nur in der Zukunft kompensieren. Nun ist der Sommer da. Und es ist so heiss, dass die Leute in die Berge wollen. Auch die ausländischen Gäste kommen gern in die Schweiz, weil es in Europa an vielen Orten Hitzewellen gibt. Ich bin überzeugt, dass viele, die wegen des Wetters im Frühling keine Ferien in der Schweiz buchten, dies nun im Herbst nachholen werden.

«Wir haben rund 1800 Touristenattraktionen in der Schweiz», freut sich ST-Chef Martin Nydegger.
Foto: Geri Born

Aus welchen Ländern sind diesen Sommer die meisten Touristen da?
45 Prozent unserer Hotelbetten sind immer noch von Schweizerinnen und Schweizern besetzt. Es ist wichtig, die eigene Bevölkerung als Gast zu haben. Die ausländischen Gäste kommen vor allem aus Europa. Deutschland ist der Auslandsmarkt Nummer 1. Es folgen Frankreich, Italien und Grossbritannien. Und dann: Amerika! 23 Prozent Wachstum im letzten Jahr. Der Wahnsinn. Es kann durchaus sein, dass in Kürze die Amerikaner die Deutschen überholen. Das wäre historisches Neuland. Das hat es noch nie gegeben.

Was ist der Grund?
Es gibt 320 Millionen Amerikaner, und die Wirtschaft läuft gut. Und: Das Land ist extrem teuer. Viele Amerikaner sagen, dass es für sie preislich interessanter ist, im Ausland Ferien zu machen als im eigenen Land. Das ist erstaunlich.

Gibt es Touristen, die nerven?
Klar. Einer von 1000. Überall, wo es Menschen hat, gibt es die Fantastischen, die Mittelmässigen und eben die paar, die nerven. Bedauerlicherweise bekommen sie die grösste Aufmerksamkeit. An ihnen arbeitet man sich ab. Das ist sehr schade.

«Overtourism» respektive Massentourismus ist heute weltweit ein Problem: überlaufene Städte, steigende Preise, hohe Umweltbelastung. Auch in der Schweiz?
Nein, nein. «Overtourism» ist nicht flächendeckend. Aber es gibt ihn an einigen Orten dieser Welt. Selbstverständlich will das niemand. In der Schweiz haben wir nur punktuell Engpässe. An wenigen Orten, an wenigen Tagen.

Wo?
Es sind die bekannten Orte im Berner Oberland. Ich war selber grad in Lauterbrunnen. Und ja, es war voll. Aber «Overtourism» lässt sich nicht messen. Er ist eine Empfindlichkeit der Leute, die dort wohnen, und eine Befindlichkeit der Gäste. Diese haben selbstverständlich eine höhere Schmerzgrenze, weil sie wissen, worauf sie sich einlassen. Wir nehmen dieses Thema aber sehr ernst. Denn es ist unser Job als Touristiker, sicherzustellen, dass die Balance zwischen der Befindlichkeit der einheimischen Bevölkerung und dem Tourismus ausgewogen ist.

Aktuell hat SP-Nationalrat David Roth aus Luzern die Nase voll vom Massentourismus, fordert für die Stadt ein Rollkofferverbot und dass keine neuen Hotels mehr gebaut werden dürfen. Was denken Sie über solche Massnahmen?
Es ist Sommerzeit. Ein dankbarer Zeitpunkt, um sich mit dem Thema Tourismus zu befassen. Da gibt es immer viele Ideen und Wünsche, die eingereicht werden. In Dubrovnik hat man auch schon über das Rollkofferverbot nachgedacht, aber nie umgesetzt. Und wenn keine Hotels mehr gebaut werden, dann gehen die Leute eben in Airbnbs. Das ist sicher keine Lösung. Im Gegenteil: Hotels garantieren Arbeitsplätze und haben klare Hygiene- und Sicherheitsbestimmungen.

Was ist das grösste Problem beim «Overtourism»?
Die Kreuzfahrtschiffe. Sie spucken innerhalb einer Stunde Tausende Gäste aus. Und fluten Dörfer, Städte, Inseln und Berge. Die Menschen übernachten nicht, nehmen meist den Lunch mit und lassen dafür den Abfall liegen.

2022 lancierte Schweiz Tourismus die Initiative «Swisstainable», um das Reiseland Schweiz nachhaltiger zu machen. Top oder Flop?
Wir haben innerhalb von zwei Jahren fast 3000 Tourismusbetriebe dazu gebracht, nachhaltig zu arbeiten. Wir haben gerade die Start-linie überschritten und sind noch lange nicht am Schluss. Geschäfte machen und Nachhaltigkeit ist kein Widerspruch. Es funktioniert.

Welche Reisetrends sind in?
Eigentlich banal: Aber die Leute wollen nach wie vor Natur, schöne Landschaften und Berge.

Was funktioniert nicht mehr?
Nachhaltigkeit zu ignorieren. Heute muss ein Tourismusbetrieb seinem Gast die Frage beantworten können, was er für einen nachhaltigen Tourismus macht. Das funktioniert bei grossen und kleinen Betrieben. Zu sagen, das interessiere einen nicht, das geht nicht mehr.

Geht es Ihnen darum, möglichst viele Touristen in die Schweiz zu holen?
Nein. Es ist keine Frage von viel oder wenig, es ist eine Frage der Balance. Übers Jahr gesehen haben wir eine Hotelauslastung von 50 Prozent. Nur jedes zweite Bett ist besetzt. Das ist nicht so gut. Die Hochsaison müssen wir nicht pushen, das funktioniert. Dafür wollen wir den Herbst fest etablieren. Denn es ist eine eigenständige, starke Saison. Im September wird es deshalb einen neuen Werbespot geben – wieder mit Roger Federer und einem berühmten Co-Star. Wer das sein wird, verrate ich allerdings noch nicht (schmunzelt).

Sie sind kürzlich unter die Autoren gegangen, haben mit Hansruedi Müller, dem langjährigen Professor für Tourismusökonomie an der Uni Bern, das Buch «Unterwegs» geschrieben. Wie gefällt Ihnen diese Erfahrung?
Ich muss sagen, ich habe Respekt vor allen Autoren gewonnen. Das war ein Chrampf! Es hat es nicht einfacher gemacht, dass wir zu 20 verschiedenen touristischen Themen 20 verschiedene Persönlichkeiten befragt haben. Doch ich glaube, diese Bandbreite tut dem Buch gut. Und: Spass gemacht hats trotz allem!

Martin Nydegger mit seiner Partnerin Fabi Gama (45). Sie ist Besitzerin der Reiseagentur Fabi Travels.
Foto: Geri Born
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