«Schwerwiegende Verfahrensfehler»
Obergericht Zürich hebt Urteil gegen Pierin Vincenz auf

Das Zürcher Obergericht hebt das Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz auf. Allerdings nicht, weil es Vincenz für unschuldig hält. Sondern weil die Vorinstanz offenbar nicht sauber gearbeitet hat. Die Staatsanwaltschaft reagiert.
Publiziert: 20.02.2024 um 08:57 Uhr
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Aktualisiert: 20.02.2024 um 19:33 Uhr
Erfolg für Pierin Vincenz: Das Zürcher Obergericht hebt das Urteil gegen ihn auf.
Foto: Keystone
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Sarah FrattaroliStv. Wirtschaftschefin

Das Zürcher Obergericht hebt das Urteil gegen den Ex-Raiffeisen-Boss Pierin Vincenz (67) auf. Wie ein Sprecher des Obergerichts auf Anfrage von Blick erklärt, handle es sich nicht um ein Urteil in inhaltlicher Sache. Vielmehr sei das Urteil des Bezirksgerichts Zürich wegen «schwerwiegender Verfahrensfehler» aufgehoben worden.

So sei unter anderem das rechtliche Gehör verletzt worden. Die Beschuldigten hatten dies bereits während des erstinstanzlichen Prozesses moniert – und erhalten nun recht.

«Ausschweifende Anklageschrift»

Die Anklageschrift sei zu umfassend gewesen, so die Begründung des Obergerichts. Das habe es für die Angeklagten erheblich erschwert, sich wirksam zu verteidigen. Eine Anklageschrift habe das Verhalten der beschuldigten Person «möglichst kurz, aber genau» zu umschreiben, so das Obergericht. Im Falle Vincenz war die Anklageschrift 364 Seiten lang. Das Obergericht bezeichnet sie als «teilweise ausschweifend». Der gesetzliche Rahmen sei dadurch gesprengt worden.

Die Anklageschrift sei teilweise wiederholend, so das Obergericht. Und: «Sie führt regelmässig auch nicht relevante Ereignisse, Vorgeschichten und Hintergrundinformationen an.» Wir erinnern uns: Die Anklageschrift hatte unter anderem dargelegt, wie Vincenz bei 102 Besuchen in 18 verschiedenen Stripclubs fast 200'000 Franken verlochte. Sie sparte dabei nicht mit Details.

Ausserdem hätte die Anklageschrift als Ganzes auf Französisch übersetzt werden müssen, weil es einen französischsprachigen Beschuldigten gab, so der Sprecher des Obergerichts. Er habe sowohl in der Strafuntersuchung als auch im Gerichtsverfahren mehrfach verlangt, dass die Unterlagen übersetzt werden – vergeblich. «Die Verweigerung der Übersetzung durch die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz stellt eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs dar und verletzt das Fairnessgebot», so das Obergericht.

Der schiere Umfang des Falls hatte auch dem Bezirksgericht selber zu schaffen gemacht: Das schriftliche Urteil war am Ende gar 1200 Seiten lang.

«Der Anspruch auf ein faires Gerichtsverfahren gilt für alle Beschuldigten, unabhängig von deren Bekanntheit oder der Grösse und Komplexität des Falles», schreibt das Zürcher Obergericht in der zugehörigen Mitteilung.

Hier verlässt Pierin Vincenz das Bezirksgericht
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Nach dem Urteil:Hier verlässt Pierin Vincenz das Bezirksgericht

Schmach fürs Bezirksgericht

Die Aufhebung des Urteils durch das Obergericht hat Seltenheitswert. Sie sei die «Ausnahme», schreibt das Obergericht dazu, und käme nur bei «schwerwiegenden, nicht heilbaren Mängeln des erstinstanzlichen Verfahrens in Betracht». Eine Klatsche sowohl für die zuständige Zürcher Staatsanwaltschaft als auch das Zürcher Bezirksgericht!

Neben Vincenz standen bei dem Prozess vor rund zwei Jahren sechs weitere Beschuldigte vor Gericht. Im Falle des Hauptbeschuldigten Vincenz lag das Urteil bei drei Jahren und neun Monaten Haft – unbedingt. Das Urteil lautet unter anderem auf Betrug, ungetreue Geschäftsbesorgung und mehrfache passive Privatbestechung. Vincenz' Geschäftspartner Beat Stocker war gar zu vier Jahren Haft verurteilt worden. Drei weitere Beschuldigte wurden zu bedingten Geldstrafen verurteilt.

Nur einer der Angeklagten wurde vom Bezirksgericht Zürich freigesprochen. Gegen einen weiteren der Angeklagten, Peter Wüst (†68), wurde das Verfahren aufgrund einer schweren Demenzerkrankung eingestellt. In der Zwischenzeit ist er verstorben.

Die Staatsanwaltschaft warf dem ehemaligen Raiffeisen-Chef und seinem Kompagnon Stocker insbesondere vor, dass sie sich heimlich an Firmen beteiligt und danach dafür gesorgt hatten, dass diese Unternehmen unter anderem durch die Raiffeisen aufgekauft wurden. Dabei sollen die beiden Gewinne in Millionenhöhe eingestrichen haben.

Staatsanwaltschaft reicht Beschwerde beim Bundesgericht ein

Am Dienstagabend hat die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich angekündigt, dass sie beim Bundesgericht Beschwerde gegen den Rückweisungsentscheid des Obergerichts einreichen werde. Die Staatsanwaltschaft teile diese Auffassung des Obergerichts nicht. Die «zu ausführliche» Anklage sei von allen Parteien verstanden und gezielt hinterfragt worden. Und auch der französischsprachige Beschuldigte habe an der Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Zürich bestätigt, die Anklageschrift verstanden und mit seiner Verteidigung besprochen zu haben.

Aus diesen Gründen sei die äusserst aufwändige Wiederholung des gesamten erstinstanzlichen Verfahrens aus Sicht der Staatsanwaltschaft nicht angebracht.

So geht es jetzt weiter

Diverse Beteiligte hatten Berufung gegen das Urteil des Bezirksgerichts eingelegt. Darunter neben den Beschuldigten auch die Staatsanwaltschaft sowie die Privatklägerinnen. Aufgrund der Berufung gelangte die Sache ans Obergericht – die den Fall nun ihrerseits an die Staatsanwaltschaft zurückweist. Diese kann den Fall neu aufarbeiten – und in der Folge erneut Anklage gegen Vincenz und Co. am Bezirksgericht einreichen.

Die Vermögenswerte bleiben so lange sichergestellt, wie das Obergericht betont. Des Weiteren entspreche die Aufhebung des Urteils keiner inhaltlichen Beurteilung zu Schuld oder Unschuld von Vincenz, so das Obergericht. Es gelte weiterhin die Unschuldsvermutung.

Vincenz erhält mit der Rückweisung des Urteils vom Obergericht eine Entschädigung von knapp 35'000 Franken zugesprochen. Damit soll er seinen Anwalt Lorenz Erni entschädigen können. Die übrigen Beschuldigten erhalten zum Teil gar noch höhere Prozessentschädigungen zugesprochen: Bei Beat Stocker sind es 65'000 Franken. Diese Entschädigungen werden aus der Gerichtskasse des Zürcher Obergerichts bezahlt.

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