Jede 20. Behandlung führt zu einem Schaden
60'000 Spitalfehler pro Jahr – und niemand weiss, wieso

Fünf Prozent der Patienten erleiden im Spital vermeidbare Schäden. Das ist seit fünf Jahren bekannt. Doch eine Studie zu den Gründen fehlt immer noch. Die Kritik wird lauter.
Publiziert: 12.09.2024 um 11:34 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2024 um 10:04 Uhr

Auf einen Blick

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Yves Demuth
Beobachter

Ein Spitalaufenthalt kann gefährlich sein. Fünf Prozent aller Patienten erleiden während einer medizinischen Behandlung einen Schaden. Ein Schaden, der vermeidbar wäre. Das ist die offizielle Schätzung des Bundes.

Der «Beobachter» hat ausgerechnet, was das heissen könnte. So legen Studien nahe, dass jährlich rund 60'000 Personen einen solchen Spitalfehler erleiden.

Artikel aus dem «Beobachter»

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Für rund 10'000 Betroffene pro Jahr bedeutet der vermeidbare Fehler gar eine «erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung». Das Bundesamt für Gesundheit bezeichnet diese «Beobachter»-Berechnung als «nachvollziehbar».

Bundesamt schlug bereits 2019 Alarm

Eine der grössten Gefahren für Schweizer Spitalpatientinnen und -patienten sind Wundinfektionen nach Operationen. Doch Patientinnen können auch nach einem Schlaganfall ein falsches Medikament erhalten, statt operiert zu werden. So geschehen am Berner Inselspital bei einer 53-Jährigen. Oder sie können während der Operation mittelschwere Verbrennungen erleiden. So geschehen am Basler Universitätsspital bei einem 77-Jährigen.

Das alles ist seit 2019 bekannt. Das Bundesamt für Gesundheit hatte damals gefordert: «In der Schweiz muss die Qualität der medizinischen Versorgung verbessert werden.» Doch bisher blieb die Forderung ohne messbaren Erfolg.

Oxford-Professor kritisiert Schweiz

Das Bundesamt schlug vor fünf Jahren Alarm, weil Professor Charles Vincent von der Oxford University in Grossbritannien die Mängel des Schweizer Gesundheitswesens offenlegte.

Sein Bericht im Auftrag des Bundes zu Qualität und Patientensicherheit im schweizerischen Gesundheitswesen kam zum Schluss, dass es so gut wie keine Transparenz über die Qualität an Spitälern gibt.

Das Bundesamt für Gesundheit musste ernüchtert feststellen: «Es liegen zu wenig Informationen vor, um Verbesserungen vorzunehmen.»

Der Bundesrat reagierte, änderte das Gesetz, gründete eine Eidgenössische Qualitätskommission und bestellte bei dieser 2021 eine Studie, die das Ausmass des Missstands festhalten sollte.

Der Bundesrat gab der Kommission damals als Jahresziel vor, eine «Studie über unerwünschte Ereignisse innerhalb des Schweizer Gesundheitssystems» zu erstellen. Die Studienautoren sollten Daten liefern zu Art, Umfang, Schweregrad und Vermeidbarkeit von Spitalfehlern. Doch die Studie fehlt bis heute.

Weshalb so viele Spitalpatienten durch «vermeidbare unerwünschte Ereignisse» – so nennen Forscher die Spitalfehler – geschädigt werden, kann deshalb niemand mit Sicherheit sagen.

Nationalrat fordert Melderegister für medizinische Fehler

Im Sommer 2023 fragte der damalige SP-Nationalrat und heutige Ständerat Baptiste Hurni nach. Er forderte einen «echten nationalen Plan zur Vorbeugung von medizinischen Fehlern in der Schweiz».

«Medizinische Fehler sind in der Schweiz leider immer noch zu zahlreich», schrieb Hurni in seinem Vorstoss. Und diese Fehler würden im Gesundheitswesen schamhaft als «unerwünschte Ereignisse» betitelt. «Fehler sind gewiss menschlich. Damit sie nicht wieder vorkommen, muss man jedoch wissen, dass es sie gibt, und sie benennen.» Es brauche ein nationales Melderegister für medizinische Fehler.

Der Beobachter-Prämienticker

Es scheint wie ein Naturgesetz: Im Herbst fallen die Blätter und die Krankenkassenprämien steigen. Mit dem Prämienticker übernimmt der Beobachter etwas dagegen: Er recherchiert und publiziert Missstände im Gesundheitswesen, benennt die Verantwortlichen und fordert Lösungen von den Entscheidern.

Es scheint wie ein Naturgesetz: Im Herbst fallen die Blätter und die Krankenkassenprämien steigen. Mit dem Prämienticker übernimmt der Beobachter etwas dagegen: Er recherchiert und publiziert Missstände im Gesundheitswesen, benennt die Verantwortlichen und fordert Lösungen von den Entscheidern.

Der Bundesrat verwies in seiner Antwort auf die Studie, die er 2021 bei der Qualitätskommission bestellt hatte. Die Ergebnisse müssten noch 2023 vorliegen, schrieb der Bundesrat vor einem Jahr. Doch auch das traf nicht ein.

Kommission fürchtete Widerstand der Spitäler

Die Qualitätskommission befürchtete, dass eine solche Studie bei Spitälern auf Widerstand stossen könnte. Das schreibt das Bundesamt für Gesundheit. Deshalb wollte die Kommission vor der Datenerhebung zuerst eine Machbarkeitsstudie durchführen.

Dokumente, die der «Beobachter» gestützt auf das Öffentlichkeitsrecht herausverlangt hat, zeigen zudem, dass die Stiftung Patientensicherheit Schweiz während eineinhalb Jahren nicht in der Lage war, die bestellte Machbarkeitsstudie zu liefern.

Stiftung Patientensicherheit in schlechtem Zustand

Die Dokumente zeigen eine Stiftung in einem erdenklich schlechten Zustand. Das ist insofern erstaunlich, als die Stiftung immer wieder als Hüterin der Patientenrechte bezeichnet wird. Kurz nach der Offertstellung kündigten damals der Direktor und der Präsident der Stiftung.

Die Stiftung reichte eine neue Offerte ein. Die Kommission wies diese jedoch zurück, weil sie den Ansprüchen nicht genüge. Im Februar 2023 wurde die nachgebesserte Version endgültig abgewiesen.

Fünf Jahre später: immer noch keine Studie über «unerwünschte Ereignisse»
Foto: Getty Images

Geschäftsführerin Annemarie Fridrich entschuldigt das Versagen mit grösseren strukturellen und personellen Veränderungen. Zudem habe es einen Streit über die Publikationsrechte der Studienresultate gegeben.

Den Vorwurf, die Stiftung Patientensicherheit sei in einem schlechten Zustand, weist sie zurück. Man habe sich inzwischen neu aufgestellt und setze sich heute nicht mehr zum Ziel, direkte Forschungsaufträge anzunehmen.

Neuer Auftrag für fast eine Million Franken

Die Qualitätskommission schrieb den Studienauftrag schliesslich öffentlich aus. Zudem beschloss sie, die Sache zu beschleunigen. Die Angst vor den Spitälern war offenbar verflogen. Die Kommission entschied, direkt Daten erheben zu lassen, ohne zuerst die Machbarkeit zu prüfen.

Im April dieses Jahres erhielt das Lausanner Universitätszentrum für Allgemeinmedizin und öffentliche Gesundheit, Unisanté, den Zuschlag. Kostenpunkt: 980'000 Franken. Die Studie soll am 30. April 2026 fertig sein – sieben Jahre, nachdem das Bundesamt für Gesundheit Alarm geschlagen hat.

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