Paradigmenwechsel: Ärzte sind den Bewertungsportalen nicht mehr abgeneigt.
Foto: Keystone

Krankenkassen warnen vor neuer Kostenlawine
Prämienanstieg von über 30 Prozent

Der Krankenkassenverband Santésuisse warnt: Wenn alle Pläne, die derzeit im Gesundheitswesen existieren, Realität werden, kostet uns das bald 10 Milliarden Franken pro Jahr zusätzlich.
Publiziert: 13.07.2019 um 23:42 Uhr
|
Aktualisiert: 18.06.2022 um 20:57 Uhr
Moritz Kaufmann

Die Schweiz fühlt sich gesund – das ist die gute Nachricht. In einer Befragung des Bundesamts für Statistik bezeichneten 85 Prozent der Bevölkerung ihren Gesundheitszustand im Oktober als «gut» oder sogar «sehr gut». Die Kehrseite: Nie kostete uns die Gesundheit mehr als heute. 2017 verschlang sie 82,5 Milliarden Franken! Seit Jahren schon steigen die Kosten des Schweizer Gesundheitswesens schneller als die Löhne. Viele Haushalte ächzen unter den Krankenkassenprämien.

Jetzt warnen just die Kassen vor der nächsten Kostenlawine. Derzeit liegen in Bundesbern diverse Pläne zum Gesundheitswesen auf. Werden sie alle Realität, drohen Mehrausgaben von zehn Milliarden – pro Jahr! Müssten das die Prämienzahler alleine stemmen, würden die Prämien um über 30 Prozent steigen (2017 betrugen die Ausgaben der obligatorischen Krankenkasse 32,5 Milliarden Franken). SonntagsBlick liegt die Rechnung von Santésuisse vor, dem grösseren der beiden Krankenkassenverbände.

Neuer Ärztetarif

Der sogenannte Tarmed sorgt seit Jahren für Streit. Er regelt, wie viel Geld Ärzte und Spitäler in Rechnung stellen dürfen. Die Mediziner argumentieren, ihre Leistungen würden nicht ausreichend abgegolten. Der Ärzteverband FMH und der kleinere der beiden Krankenkassenverbände, Curafutura, haben deshalb den Tardoc ausgearbeitet – und am Freitag zur Bewilligung beim Bundesrat eingereicht. Es ist ein neues, modernes Tarifsystem. Nur: Schätzungen gehen davon aus, dass der Tardoc 20 Prozent höhere Kosten verursachen wird. Wo man die einsparen soll, darüber herrscht – natürlich –Streit. Mehrkosten: drei Milliarden.

Pflege-Initiative

Die Pflege soll attraktiver werden. Unter anderem mit mehr Weiterbildungen, höherem Ausbildungslohn oder einer Beschränkung der Anzahl Patienten pro Pfleger. Ihr Verband hat deshalb die sogenannte Pflege-Initiative eingereicht – die der Bundesrat ablehnt. Doch das Anliegen ist sympathisch, Beobachter geben der Initiative Chancen beim Volk. Mehrkosten laut Santésuisse: fünf Milliarden pro Jahr.

Krebsmedikamente

Die Pharmamultis haben eine Reihe von innovativen Krebsmedikamenten in der Pipeline: für Betroffene ein Segen, für Prämienzahler eine Last. Denn die neuen Therapien sind unvergleichlich teuer. Santésuisse rechnet vor: Es kommen 30 Medikamente auf den Markt, die – konservativ gerechnet – im Schnitt 300000 Franken kosten! Wenn jedes davon etwa 100 Personen hilft, ergibt dies Mehrkosten von einer Milliarde Franken.

Finanzspritzen

Auch sonst sitzt das Geld derzeit bei den Gesundheitspolitikern locker. Der Bundesrat hat vorletzte Woche der Pflege schon mal 83 Millionen zugesprochen. Ende Juni hat er erleichterten Zugang zu psychologischen Behandlungen in Aussicht gestellt – die soll laut den Plänen 100 Millionen pro Jahr kosten. Und eine neu gegründete Parlamentarische Gruppe für Kinder- und Jugendmedizin kämpft für zusätzliche Finanzspritzen für die Kinderspitäler. Kumulierte Mehrkosten: eine Milliarde.

Selbstverständlich gibt es auch Kritik an der Berechnung von Santésuisse. So sagt Yvonne Ribi, Geschäftsführerin im Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK): «Wir ziehen diese Berechnungen in Zweifel. Sie sind nicht seriös und zielen darauf, unsere Initiative zu diskreditieren.» Im Herbst will sie eigene Zahlen präsentieren, die zeigen würden, dass sich die Investitionen in die Pflege lohnen würden.

Curafutura, der Konkurrenzverband von Santésuisse, und der Ärzteverband FMH wiederum betonen laut einem Communiqué vom Freitag, dass die neuen Ärztetarife «kostenneutral» umgesetzt sein müssen. Wie das geschehen soll, überlassen sie dem Bundesrat.

«System wird von Egoismus und Eigennutz getrieben»

BLICK: Herr Brand, im Gesundheitsbereich reden alle vom Sparen, aber Ihr Verband Santésuisse hat ausgerechnet, dass Projekte für zehn Milliarden Franken anstehen ...
Heinz Brand:
... und das jährlich wiederkehrend!

Warum sitzt das Geld so locker?
Man tut jetzt so, als habe man nach dem Sparprogramm des Bundesrats seine Schuldigkeit getan und meldet wieder neue Begehrlichkeiten an. Niemand überblickt die fatalen Folgen dieser Forderungen für die Prämienzahler in der Summe.

Das Gesundheitssystem ist aber auch unübersichtlich.
Jeder kämpft für seine Interessen und versucht, möglichst viel herauszuholen. Eine Interessenbündelung findet nirgendwo statt. Das Gesundheitssystem wird von Egoismus und Eigennutz getrieben.

Übertreiben Sie da nicht? Die Pfleger argumentieren, die Pflege-Initiative werde gar nicht so teuer!
Wir sind aber überzeugt davon. Die geforderte Aus- und Weiterbildung im Fachhochschulbereich sorgt für eine grössere Akademisierung. Das kritisieren teilweise sogar die Pfleger! Eine weitere Akademisierung ist teuer, obwohl das Lohnniveau in der Pflege nicht schlecht ist. Weiter soll die Anzahl Patienten pro Pfleger beschränkt werden. Dabei gehören wir punkto Pflegerdichte schon heute zu den Top fünf in Europa.

Von der besseren Pflege hätten wir alle etwas.
Klar hört sich das gut an! Aber von der Akademisierung alleine hat der Patient nichts. Vor allem die Kostenfolgen wären enorm und völlig ­unverhältnismässig!

Was ist mit den neuen Ärztetarifen? Dass der Tarmed überarbeitet werden muss, bestreitet ja wohl niemand.
Unser Verband kämpft dafür, dass neue Tarife nicht mehr kosten als heute. Der von Curafutura und den Ärzten ausgehandelte Tarif Tardoc dagegen geht in eine andere Richtung. Er erlaubt den Ärzten, ihre Abrechnungen noch mehr zu optimieren. Auch das schlägt wieder auf die Prämien durch. Dass so etwas überhaupt dem Bundesrat vorgelegt wird, ist ein Ärgernis.

Sie prangern auch die neuen Krebsmedikamente an.
Der Bundesrat nimmt offenbar in Kauf, dass wir für die neuen Supermedikamente von Roche und Novartis viel zu viel bezahlen. Der Preis soll sogar geheim bleiben. Für ein einzelnes Medikament mehrere Hunderttausend Franken, obwohl die Erfolge noch nicht restlos nachgewiesen sind? Da stimmt doch einfach das Verhältnis nicht mehr!

Weil das unter dem Strich die Prämienzahler berappen müssen?
Und die Steuerzahler! Das ärmste Drittel der Bevölkerung erhält bereits Prämienverbilligungen, was ja richtig sein mag. Bei den Reichsten kommt es nicht drauf an. Aber der Mittelstand – der alle Rechnungen selber stemmt – wird doppelt ausgepresst.

Santésuisse-Präsident Heinz Brand kritisiert den Egoismus im Gesundheitswesen.
50 Patrick Luethy

BLICK: Herr Brand, im Gesundheitsbereich reden alle vom Sparen, aber Ihr Verband Santésuisse hat ausgerechnet, dass Projekte für zehn Milliarden Franken anstehen ...
Heinz Brand:
... und das jährlich wiederkehrend!

Warum sitzt das Geld so locker?
Man tut jetzt so, als habe man nach dem Sparprogramm des Bundesrats seine Schuldigkeit getan und meldet wieder neue Begehrlichkeiten an. Niemand überblickt die fatalen Folgen dieser Forderungen für die Prämienzahler in der Summe.

Das Gesundheitssystem ist aber auch unübersichtlich.
Jeder kämpft für seine Interessen und versucht, möglichst viel herauszuholen. Eine Interessenbündelung findet nirgendwo statt. Das Gesundheitssystem wird von Egoismus und Eigennutz getrieben.

Übertreiben Sie da nicht? Die Pfleger argumentieren, die Pflege-Initiative werde gar nicht so teuer!
Wir sind aber überzeugt davon. Die geforderte Aus- und Weiterbildung im Fachhochschulbereich sorgt für eine grössere Akademisierung. Das kritisieren teilweise sogar die Pfleger! Eine weitere Akademisierung ist teuer, obwohl das Lohnniveau in der Pflege nicht schlecht ist. Weiter soll die Anzahl Patienten pro Pfleger beschränkt werden. Dabei gehören wir punkto Pflegerdichte schon heute zu den Top fünf in Europa.

Von der besseren Pflege hätten wir alle etwas.
Klar hört sich das gut an! Aber von der Akademisierung alleine hat der Patient nichts. Vor allem die Kostenfolgen wären enorm und völlig ­unverhältnismässig!

Was ist mit den neuen Ärztetarifen? Dass der Tarmed überarbeitet werden muss, bestreitet ja wohl niemand.
Unser Verband kämpft dafür, dass neue Tarife nicht mehr kosten als heute. Der von Curafutura und den Ärzten ausgehandelte Tarif Tardoc dagegen geht in eine andere Richtung. Er erlaubt den Ärzten, ihre Abrechnungen noch mehr zu optimieren. Auch das schlägt wieder auf die Prämien durch. Dass so etwas überhaupt dem Bundesrat vorgelegt wird, ist ein Ärgernis.

Sie prangern auch die neuen Krebsmedikamente an.
Der Bundesrat nimmt offenbar in Kauf, dass wir für die neuen Supermedikamente von Roche und Novartis viel zu viel bezahlen. Der Preis soll sogar geheim bleiben. Für ein einzelnes Medikament mehrere Hunderttausend Franken, obwohl die Erfolge noch nicht restlos nachgewiesen sind? Da stimmt doch einfach das Verhältnis nicht mehr!

Weil das unter dem Strich die Prämienzahler berappen müssen?
Und die Steuerzahler! Das ärmste Drittel der Bevölkerung erhält bereits Prämienverbilligungen, was ja richtig sein mag. Bei den Reichsten kommt es nicht drauf an. Aber der Mittelstand – der alle Rechnungen selber stemmt – wird doppelt ausgepresst.

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