Lokführer missachten so viele Signale wie noch nie
«Das Personal muss Extraschichten wegen Engpässen leisten»

In zehn Jahren missachteten Lokführer Tausende Rotlichter. Sollten die Fälle weiter zunehmen, will das Bundesamt für Verkehr Massnahmen ergreifen.
Publiziert: 27.08.2023 um 00:10 Uhr
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Aktualisiert: 28.08.2023 um 09:41 Uhr

Am Donnerstagmittag, 2. Juni 2022, kracht in Zollikofen BE eine BLS-Lok mit 51 Stundenkilometern in einen stehenden Güterzug. Es knallt – Lok und Güterzug sind zerstört, der Bahnverkehr zwischen Bern und Biel ist 48 Stunden lang stark eingeschränkt. Der Lokführer hatte ein Haltesignal übersehen und zu spät gebremst.

Am frühen Freitagmorgen, 28. August 2020 – der Pendlerverkehr läuft gerade erst an – entgleist ein Regio Express im Bahnhof Bern kurz nach der Abfahrt. Verletzt wird niemand, doch das Chaos ist beträchtlich. Der Bahnhof ist für Stunden blockiert. Schuld war die Unachtsamkeit des Lokführers: Er hatte unmittelbar nach dem Losfahren auf seinen Tourenplan geblickt und dabei ein Haltesignal übersehen.

Beide Unfälle sind sogenannte Signalfälle und müssen dem Bundesamt für Verkehr (BAV) gemeldet werden. Aus dessen Daten geht hervor, dass Vorkommnisse wie diese in den letzten Jahren deutlich zugenommen haben. Allein 2022 wurden dem BAV 474 Signalfälle gemeldet – so viele wie nie zuvor. 2012 waren es erst 267.

Signalfall mit gravierenden Folgen: 2015 kracht eine S-Bahn in Rafz ZH in einen Interregio. Sachschaden: 13 Millionen.
Foto: Keystone
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Mehr Signalfälle, weniger Schaden

Nicht immer gehen Signalfälle glimpflich aus wie in Zollikofen oder Bern: In den letzten zehn Jahren wurden dabei 58 Personen verletzt, 14 davon schwer. Zwei Menschen verloren sogar ihr Leben: Bei einer Kollision in Granges-Marnand im Waadtland kam 2013 der 24-jährige Lokführer eines Regio Express ums Leben. Sein Kollege im entgegenkommenden Regionalzug hatte ein Haltesignal missachtet.

Und im Juli 2022 geriet ein 62-jähriger Rangierleiter in Brig VS unter einen Zisternenwagen. Auch er hatte ein Signal übersehen.

Obwohl die Signalfälle zugenommen haben, nahmen Sachschäden und Verletzte in den letzten Jahren ab. Im Gegensatz zu den Kosten. Die Sachschäden für überfahrene Rotlichter sind enorm: Fast 57 Millionen Franken kamen laut BAV in den letzten zehn Jahren zusammen – für Schäden am Zug, aber auch an Bahnanlagen oder Dritten.

Personalmangel ist ein Faktor

Kommt es zu einer Kollision zweier Züge, können die Kosten schnell in die Millionen gehen. Im Februar 2015 beispielsweise kollidierte in Rafz ZH eine S-Bahn mit einem Interregio – Schaden: 13 Millionen Franken. Im Juli 2020 rammte ein ausfahrender Autozug in Oberwald VS die Flanke eines einfahrenden Regionalzugs – Schaden: 6 Millionen. Der Führer des Autozuges war davon ausgegangen, sein Signal stehe auf freie Fahrt.

Doch warum fahren Lokführerinnen und Lokführer immer häufiger über Rot? Für Philipp Hadorn (56) von der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) sind die mit dem Personalmangel zunehmenden Anforderungen an die Bähnler verantwortlich, aber auch der hochkomplexe, dichte Fahrplan. «Die Aufgaben im hochtechnischen Bahnbereich mit extremen Folgen bei Missachtung von Regeln bedürfen enormer Konzentration», sagt Hadorn. Gleichzeitig sei hier technische Unterstützung von enormer Bedeutung.

«Wenn Leute unter Druck sind, dann nehmen Fehler zu»

Gerade SBB Cargo sei schon länger von Personalmangel betroffen. «Das bestehende Personal muss wegen Engpässen Extraschichten leisten.» Hinzu komme: «Entspannungspausen sind nach wie vor ein Problem. Die gesetzlichen Pausen werden eingehalten, aber die Übergänge sind teilweise kürzer geworden. Das ist ein Stressfaktor.»

Verstärkte politische Forderungen nach Eigenwirtschaftlichkeit setze das Personal unter Druck. Dazu Hadorn: «Wenn Leute unter Druck sind, dann nehmen Fehler zu.»

SBB Cargo habe es verpasst, rechtzeitig genügend ins Personal zu investieren. Der Gewerkschafter kritisiert die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, aber auch falsche konzerninterne Prioritäten.

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App soll Lokführer unterstützen

Die SBB haben das Problem offenbar erkannt. Seit kurzer Zeit werde wieder verstärkt in Rekrutierung und Ausbildung investiert. Ein guter, notwendiger Schritt, meint Hadorn: «Wenn genügend Mitarbeitende vorhanden sind, die ihre Arbeit gut machen können und nicht gestresst sind, dann wirkt sich das positiv auf die Sicherheit aus.»

Die SBB als grösste Schienennetzbetreiberin sagen, man habe in den letzten Jahren viel in die Reduktion von Signalfällen investiert – unter anderem die Zugsicherung und Warnsysteme nachgerüstet. Man beobachte die Entwicklung genau und analysiere jeden Unfall. Was den Personalmangel betreffe, sei man in «stetigem Austausch mit den Sozialpartnern».

Das BAV hat im Rangierbereich zwei Massnahmen ergriffen: Mit einer App sollen Lokführer beim Rangieren unterstützt werden; in einer Studie habe man zudem «menschliche Faktoren» erfasst, die zu Signalfällen führen. Peter Füglistaler, Direktor des BAV, sagt: «Wir gehen davon aus, dass wir den Trend brechen können.» Falls nicht, werde man «weitere Massnahmen ergreifen».

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