Nestlé-Präsident Peter Brabeck über experimentale Medikation
So besiegte ich den Krebs

150 Jahre Nestlé. Heute feiert der grösste und wichtigste Schweizer Konzern Geburtstag. Im BLICK-Interview spricht Nestlé-Präsident Peter Brabeck (71) über den Standort Schweiz, seine Krebserkrankung und warum er keine Angst vor dem Rücktritt hat.
Publiziert: 02.06.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 16:32 Uhr
Ulrich Rotzinger und Guido Schätti

Herr Brabeck, Nestlé ist 150 Jahre alt und abgesehen von den Weltkriegen fast immer nur gewachsen. In den letzten drei Jahren hat das Wachstum aber stagniert. Wo liegt das Problem?
Ich bitte Sie: Wir haben ein Wachstum von 4,2 Prozent. Von Stillstand kann keine Rede sein. Natürlich ist das Wachstum im laufenden Jahrzehnt nicht so stark ist wie in den Nuller Jahren. Aber es ist immer noch weit besser als in den 1980-ern oder 1990-ern. Ich sehe die Krise nicht, von denen immer wieder die Rede ist.

Aber heute stöhnt doch die ganze Welt über das schwache Wachstum. Die Notenbanken bemühen sich verzweifelt, aber erfolglos, die Wirtschaft in Schwung zu bringen.
Ich sehe keinen Grund zum Klagen. Ich gehe davon aus, dass das Wachstum der Weltwirtschaft auch in Zukunft rund 3 Prozent betragen wird, vielleicht sogar etwas mehr. Das ist ein guter Wert.

Aber China wächst nicht mehr wie früher.
Das sehe ich anders. China läuft gut. Wenn man mit paritätischen Preisen rechnet, ist China heute die grösste Wirtschaftsmacht der Welt. Das Land wächst mit über 6 Prozent. Wenn die USA in einem solchen Tempo wachsen würden, spräche man von einer Traumsituation. Die USA wachsen immerhin mit 2 oder 2,5 Prozent. Das ist auch nicht schlecht.

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Europa kommt nicht vom Fleck.
Europa wächst mit gut einem Prozent. Solange die Bevölkerung stagniert, reicht das. Es gibt ja genügend Leute, die wollen, dass wir überhaupt nicht wachsen. Am St. Gallen Symposium wollten mir Professoren weismachen, dass Wachstum schlecht ist. Da bin ich anderer Meinung. Wenn Sie aufhören zu wachsen, fangen Sie an zu sterben.

Ein schönes Bonmot zum 150. Nestlé-Geburtstag!
Mich bringt niemand so schnell von meinem Optimismus ab. Schwarzmalerei ist bei mir nicht drin.

Sie haben den Umbau von Nestlé zu einem Gesundheitskonzern eingeleitet. Interessiert Sie das traditionelle Nahrungsmittelgeschäft nicht mehr?
Doch, absolut interessiert das. Aber wir wollen wissenschaftliche Erkenntnisse in unsere Produkte einbauen und eine Nutritionsfirma werden.

Was heisst Nutrition?
Man muss das historisch sehen: Vor 150 Jahren zogen die Leute vom Land in die Stadt, arbeiteten in der Fabrik und hatten weder Zeit noch Möglichkeiten, ihre eigene Nahrung zu produzieren. Deshalb wurde die Nahrungsmittelindustrie gegründet. Es war ihre Aufgabe, den Kalorienbedarf der Menschen zu decken. Sie hat Technologien entwickelt, um die Produkte haltbar und transportfähig zu machen. Während 100 Jahren haben wird das gemacht. Dann war in Westeuropa und Nordamerika der Kalorienbedarf gedeckt. Die Konsumenten verlangten nach Neuem. Sie wollten Pasta, Pizza, asiatische Lebensmittel und Convenience-Produkte. Das war in den letzten 50 Jahren unser Geschäft.

Und jetzt?
Jetzt gelangen wir auf eine neue Stufe. Der Konsument versteht, dass die Nutrition, also die gute Ernährung, der Türöffner für ein besseres, gesünderes und längeres Leben ist. Wir wollen ihm eine personalisierte Nahrung bieten.

Zu viel Zucker und Fett hat die Menschheit ungesund gemacht. Will Nestle jetzt die Krankheiten heilen, für die das Unternehmen mitverantwortlich ist?
Passen Sie auf: Über 100 Jahre lang sind die Menschen daran gestorben, dass sie zu wenig Kalorien zur Verfügung hatten. Die Lebenserwartung in Europa um 1800 betrug 32 Jahre. Mit dem steigenden Angebot an Kalorien ist die Lebenserwartung gestiegen. Der Wendepunkt kam etwa 1995. Erstmals standen zu viele Kalorien zur Verfügung. Für gewisse Leute waren mehr Kalorien nicht mehr gesundheitsfördernd, sondern gesundheitshemmend. Als wir dies erkannten, haben wir unser Geschäftsmodell umgebaut. Wir haben Zucker, Fett und Salz in riesigen Mengen aus unseren Produkten herausgenommen.

Wird Nestlé eine Apotheke?
Wir sind keine Pharmafirma. Aber wir übersetzten die Erkenntnisse aus unserer Forschung in unsere Produkte. Wenn wir etwa feststellen, dass in Asien hunderttausende Kinder blind werden, weil sie unter Vitamin-A-Mangel leiden, dann reichern wir unsere Produkte mit Vitamin A an.

Sie verkaufen bereits Nahrungsmittel, die gegen Alzheimer vorbeugen. Was kommt noch?
Wir hoffen, dass wir dank unserer Investitionen ins Mikrobiom in fünf oder zehn Jahren ein Produkt auf den Markt bringen, das die Bakterien im Verdauungssystem steuern und Krankheiten verhindern kann.

Welche Krankheiten?
Ganz verschiedene. Das Mikrobiom ist nicht nur für Verdauungskrankheiten entscheidend, sondern auch für Krebs. Aber die Forschung ist noch im Anfangsstadium. Wir sind dabei zu schauen, zu studieren, zu lernen.

Kondensmilch, Nescafé, Pizza, KitKat und Wasser gehören zu den wichtigsten Nestlé-Produkten der letzten Jahrzehnte. Welche prägen die nächsten 50 Jahre?
Wir werden weltweit führend bleiben beim Kaffee und bei Milchprodukten. Die Produkte kommen dann anders daher.

Zum Beispiel?
Als ich bei Nestlé anfing, galt Instant-Milch als grösster Fortschritt. Heute haben wir viele Produkte auf Milch-Basis in unzähligen Variationen: für Babys, Kleinkinder bis hin zu Milchprodukten zur Verhütung von Schlaganfällen. Oder denken Sie an die probiotischen Joghurts zur besseren Verdauung.

Hier haben Sie sich aber von der Konkurrenz überholen lassen.
Ja, gut. Das kann vorkommen. Wir haben uns nicht ausreichend auf diesen Sektor konzentriert. Unser Joghurt LC1 ist aber ein tolles Produkt.

Aus welchen Produkten werden neue, grosse Marken entstehen?
Bestehende Marken wie Nescafé oder Nespresso werden noch grösser als sie bereits sind. Maggi ist eine Weltmarke. Purina ist die weltweit die wichtigste Marke im Bereich Tierfutter. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse fliessen in die Produkte ein. So werden die bestehenden Marken stärker und stärker.

Nestlé investierte in den letzten zehn Jahren 3,7 Milliarden Franken in den Produktionsstandort Schweiz. Nun nehmen wirtschaftsfeindliche Regulierungen und Initiativen zu. Ist die Schweiz noch der richtige Standort für Nestlé?
Ich traf meinen Investitionsentscheid für die Schweiz zu einer Zeit, als die Franzosen die 35-Stunden-Woche einführten und die Schweizer Politiker auch mit einer solchen liebäugelten. Damals hat das Schweizer Volk ein Referendum verlangt. Es hat gesagt, wir wollen nicht 35 Stunden arbeiten, sondern 42 Stunden, um unseren Wettbewerbsvorteil nicht zu verlieren. Dieses Referendum hat dazu bewogen, die Schweiz zu einem Produktionsstandort zu machen. Unsere Stärke in der Schweiz ist nur dem zu verdanken, dass sich damals das Volk gegen die Politik ausgesprochen hat. Heute wird jede Nespresso-Kapsel, die auf der Welt verkauft wird, in der Schweiz produziert – trotz dem starken Franken und all den Hindernissen, die wir hier haben.

Und heute, vertrauen Sie dem Stimmvolk noch immer?
Ich habe einen unglaublichen Respekt vor den Entscheidungen, die das Volk trifft. Sie sind zu 99,9 Prozent immer die richtigen. Aber die Minder-Initative hat dem Standort geschadet. Viel mehr als die Masseneinwanderungsinitiative. Hier hat das Volk meiner Meinung nach falsch entschieden.

Was sind die negativen Auswirkungen der Minder-Inititative?
Sie hat den Verwaltungsrat in seiner Macht sehr stark beschränkt. Das ist gefährlich. Denn der Verwaltungsrat ist die einzige Instanz, die die treuhänderische Pflicht hat, das langfristige Überleben einer Gesellschaft sicherzustellen. Aktionäre haben das nicht. Sie denken oft kurzfristig. Aktionäre sind heute Computer, die in Sekundenschnelle handeln. Minder hatte die Stärkung der Aktionäre propagiert. Dabei ging vergessen, dass die tatsächlichen Aktionäre ganz andere sind als jene, die er im Kopf hatte. Er hatte die Pensionskassen im Kopf. Bei den grossen Konzernen machen diese nur 5 bis 6 Prozent der Stimmen aus.

Was sind die Folgen?
Minder hat der Schweiz sehr geschadet. Es sind viele Firmen gegangen, das muss auch einmal gesagt werden. Die Bürokratie hat zugenommen. Vor Minder gab es bei uns in der Geschäftsleitung keinen Manager mit einem schriftlichen Vertrag.

Wie bitte - Top-Manager wie Sie hatten keinen schriftlichen Arbeitsvertrag?
Richtig! Alles wurde per Handschlag geregelt. Heute sind wir gezwungen, einen Vertrag zu haben. Dort müssen wir hineinschreiben, dass es ein Konkurrenzverbot gibt, was natürlich seinen Preis hat. Früher war es Ehrensache, dass man nicht zur Konkurrenz geht, ausser wenn es die Firma erlaubt. Heute haben wir Verträge noch und nöcher. Was hat es gebracht? Nichts.

Sie investieren also nicht mehr in die Schweiz?
Doch! Wenn ich mir die jüngsten Abstimmungen anschaue, muss ich sagen, das Volk in der Schweiz wählt gut und richtig. Wir sind weiterhin glücklich mit dem Standort und werden weiter investieren. Im letzten Jahr waren es knapp 320 Millionen. Beim neuen Nestlé-Museum Nest haben wir 50 Millionen Franken investiert, beim neuen Gebäude in La Tour-de-Peilz 120 Millionen. Es läppert sich einiges zusammen.

Sie haben eine schwere Krankheit hinter sich, wirken heute fit. Wie fühlen Sie sich tatsächlich?
Mir geht es so, wie ich ausschaue (klopft dreimal auf den Tisch und lacht). Es geht gut, alle Ampeln stehen auf grün.

Was hat Ihnen geholfen, den Krebs zu besiegen?
Wirklich geholfen hat mir eine Phase-II-Medikation.

Ein Medikament, das es noch nicht auf dem Markt gibt und nicht getestet wurde.
Es war eine experimentale Medikation, weil die normalen Protokolle nicht geholfen haben. Erst hatte ich geglaubt, dass alles nach sechs Monaten erledigt ist. Die Chancen standen 70 bis 75 Prozent. Doch das Medikament hat nicht funktioniert. Auch das zweite nicht. Wir mussten etwas versuchen, das noch experimental war. Das hat dann funktioniert (klopft auf den Tisch).

Nächsten April endet für Sie die Nestlé-Präsidentschaft. Andere fallen dann in ein Loch. Haben Sie Angst davor?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir das passiert. Ich habe immer Interesse an vielen Dingen gehabt. Sei das nun die Kunst, der Sport oder andere Beschäftigungen. Ich bin auch nicht nur der Präsident von Nestlé, sondern auch jener der Formel 1. Grüne Ampeln, rote Ampeln – das sind meine Wochenenden. Ich habe meine eigene Firma, eine Fischzucht, ein Family Office. Und nächstes Jahr bekomme ich meinen Pilatus PC24-Jet. Dafür muss ich eine Prüfung machen und durch die Trainings gehen. Sie sehen, mehr beschäftigt kann man gar nicht sein.

Sie sind auch Vize-Präsident des World Economic Forum.
Das werde ich weiterhin sein. Die Verwaltungsräte von Exxon und L’Oréal werde ich nächstes Jahr aber verlassen.

Alle Welt glaubt, CEO Paul Bulcke werde Ihr Nachfolger als Nestlé-Präsident. Tatsächlich ist es aber EPFL-Präsident Patrick Aebischer – richtig?
Meine Nachfolge ist eine Sache, die den Verwaltungsrat dauernd beschäftigt. Jeder im Verwaltungsrat und in der Geschäftsleitung muss innerhalb von 24 Stunden ersetzbar sein. Wir sehen wir immer zwei, besser drei Personen für eine Nachfolge vor. So ist das auch jetzt. Es gibt einige Kandidaten. Paul Bulcke ist einer davon.

Ist bei der Neubesetzung des CEO eine Frau unter den Kandidaten?
Wenn ich die Zeitung lese, dann ist das so! (lacht)

Und wenn Sie im Verwaltungsrat diskutieren, gehört dann Wan Ling Martello zu den Kandidaten?
Wir machen das gleich wie beim letzten Mal. Da hatten wir fünf interne Kandidaten, zuletzt waren es zwei, Paul Polman und Paul Bulcke. Alle fünf sind heute CEOs. Das zeigt, wie stark unser Management-Board ist.

Stehen heute auch fünf Kandidaten auf Ihrer CEO-Liste?
Dieses Mal sind es weniger. Wir haben aber auf jeden Fall mehr als einen. Wir machen keine Unterschiede zwischen Rasse und Nationalität und Geschlecht. Chinesen, Franzosen, Amerikaner sowie Frauen und Männer – alle haben dieselben Chancen.

Bleiben Sie als Ehrenpräsident dem Konzern treu?
Für mich war immer klar, dass es nur einen Ehrenpräsident geben kann. Mit Helmut Maucher haben wir bereits einen wunderbaren Ehrenpräsidenten.

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