«Niemand kann mir kündigen»
Eine revolutionäre Idee macht Wohneigentum wieder möglich

Mit «Wohneigentum auf Zeit» kann man eine Immobilie mit deutlich weniger Eigenkapital als sonst kaufen.
Publiziert: 01.06.2024 um 11:28 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2024 um 15:10 Uhr
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Matthias PflumeLeiter Extras und Textchef Beratung Beobachter

Eigentlich absurd: Die Schweiz ist reich, man kann sich hier im Alltag durchschnittlich mehr leisten als in anderen Ländern. Doch eigene vier Wände bleiben für die meisten ein Traum.

36 Prozent der Bevölkerung besitzen ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung – diese Quote ist so niedrig wie nirgendwo sonst in Europa. Verantwortlich sind vor allem stark gestiegene Immobilienpreise und strenge Tragbarkeitsregeln: Man braucht viel Eigenkapital und ein hohes Einkommen. Immer weniger Leute können da mithalten.

Nach 30 Jahren gibt man die Wohnung zurück

Es gibt aber eine Alternative: Wohneigentum auf Zeit (WAZ). Die Idee dahinter klingt bestechend: Angenommen, ein Gebäude hat eine Lebensdauer von 100 Jahren, und man nutzt eine Wohnung dort zum Beispiel 30 Jahre – dann sollte man auch nur 30 Prozent ihres Werts zahlen.

In der Schweiz bleibt Wohneigentum für viele Menschen ein Traum. Doch es gibt eine Alternative.
Foto: Sven Thomann
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So würde Wohneigentum für viel mehr Leute erschwinglich. Für 30 Jahre ist man Eigentümer mit allen Rechten und Pflichten, danach gibt man die Wohnung wieder ab und muss nicht einmal einen Käufer finden. Denn der Investor nimmt die Wohnung zurück, kann sie umfassend renovieren und wieder auf den Markt bringen.

Wohneigentum auf Zeit: Er hats erfunden

Der Basler Mischa Folger entwickelte diese Idee 1996. Ein Ausgangspunkt seiner Überlegungen war die jahrhundertelange Praxis der Bauernhöfe, wo oft drei oder sogar vier Generationen miteinander lebten. Keine von ihnen musste den Wert des Hofs komplett finanzieren und sich damit überfordern.

Der ehemalige Marketingspezialist erzählt dem Beobachter: Er spannte Arbeitsgruppen an verschiedenen Universitäten ein, um ein Konzept zu entwickeln, das funktioniert, ohne dass dafür neue Gesetze nötig wären. Wenn man mit Folger redet, der inzwischen Mitte 70 ist, spürt man: Der Mann brennt auch noch nach drei Jahrzehnten für seine Idee und kämpft dafür, dass sie mehr Verbreitung findet.

40 Prozent tiefere Kosten im Vergleich zu Mieten im Quartier

2004 wurde das Wohneigentum auf Zeit erstmals realisiert. Die Pagameno Invest AG kaufte in Bern ein Hochhaus, das bereits ein halbes Jahrhundert alt war und dringend saniert werden musste. Nach der Renovation wurden 36 Wohnungen als Wohneigentum auf Zeit verkauft. «Trotz massiven Investitionen sind die Wohnkosten im Vergleich zur Miete vorher um maximal 12 Prozent gestiegen», sagt Folger. Und heute seien sie sogar 40 Prozent tiefer als die Mieten im Quartier.

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Ana Paula Rodrigues ist eine der Eigentümerinnen im Berner Hochhaus und froh, dass die Wohnung bezahlbar ist. Die 39-Jährige lebt mit ihrem Sohn und ihrem Partner in einer Dreizimmerwohnung, die sie im Wohneigentum auf Zeit pro Monat etwa 1250 Franken kostet.

«Niemand kann mir kündigen»

Vor allem aber: Als die Portugiesin 2015 eine Mietwohnung suchte, waren alle Angebote zu teuer. Diese Wohnung, die sie stattdessen für die restliche Laufzeit von etwa 20 Jahren kaufte, kostete 74’000 Franken. Die Hälfte bekommt sie am Ende zurück, schliesslich wird die Wohnung dann mehr wert sein.

Am wichtigsten ist ihr aber: «Niemand kann mir kündigen.» Allerdings braucht sie als Eigentümerin mehr Eigenverantwortung. «Wenn etwas kaputtgeht, muss man es selbst zahlen.» Kühlschrank, Backofen, Dunstabzug – sie habe inzwischen einiges reparieren lassen müssen.

«Generell günstiger als Mieten»

«Wohneigentum auf Zeit ist generell günstiger als Mieten», sagt Yvonne Seiler Zimmermann, Professorin am Institut für Finanzdienstleistungen der Hochschule Luzern. Gemeinsam mit einer Kollegin rechnete sie das für eine Studie durch. Ergebnis: Eine Wohnung zu mieten, ist um 13 Prozent teurer als WAZ. Klassisches Stockwerkeigentum wäre dagegen günstiger als WAZ, solange der Hypozins unter 5 Prozent liegt.

Aber eben: Beim Stockwerkeigentum kauft man 100 Prozent und braucht das Dreifache an Eigenkapital – schwierig für junge Familien. Vor allem solche will die Basler Genossenschaft Wohnstadt mit einem Projekt in Reinach ansprechen. Geschäftsleiter Andreas Herbster geht davon aus, dass sich die 21 Wohnungen gut als WAZ verkaufen lassen.

So funktioniert Wohneigentum auf Zeit

Ein Investor erstellt oder kauft eine Immobilie und verkauft die einzelnen Wohnungen. Deren Käuferinnen und Käufer zahlen aber nur für 30 Jahre Nutzung, also nur 30 Prozent des Werts. 70 Prozent bleiben im Eigentum des Investors, und jedes Jahr geht ein Prozent an ihn zurück, sodass er nach 30 Jahren wieder alleiniger Eigentümer ist.

Parallel müssen die Käufer ihre Hypothek linear reduzieren, sodass diese nach 30 Jahren komplett amortisiert ist. Die Käufer zahlen ausserdem dem Investor jährlich eine Gebühr für dessen eingesetztes Kapital und für die Substanzerhaltung der Gebäudeteile ausserhalb der einzelnen Wohnungen.

Ein Wertzuwachs des Gebäudes gehört dem Investor, doch es gibt vertragliche Regeln, mit denen auch die Wohneigentümer von einer Wertsteigerung profitieren. 30 Jahre lang können die Käufer frei über die Wohnung verfügen: Sie können sie etwa dem Investor für einen definierten Preis zurückverkaufen, sie vermieten oder auch für den Rest der Laufzeit vererben.

Die wichtigsten Vorteile für Käuferinnen und Käufer

  • Kaufpreis nur 30 Prozent des Werts
  • günstiger als Miete
  • freie Verfügbarkeit für 30 Jahre
  • kein Risiko einer Wohnungskündigung
  • Hypothek reduziert Steuerbelastung
  • keine Steuern auf dem Eigenmietwert
  • kein Wiederkauf am Ende der Laufzeit nötig

Die wichtigsten Vorteile für Investoren

  • nur 70 Prozent des Kapitals in Immobilie gebunden
  • gutes Rendite-Risiko-Profil
  • keine Leerstände wegen Wechseln der Mieterschaft
  • nach 30 Jahren Modernisierung auf aktuellen Stand möglich

Mehr Informationen finden Sie hier.

Ein Investor erstellt oder kauft eine Immobilie und verkauft die einzelnen Wohnungen. Deren Käuferinnen und Käufer zahlen aber nur für 30 Jahre Nutzung, also nur 30 Prozent des Werts. 70 Prozent bleiben im Eigentum des Investors, und jedes Jahr geht ein Prozent an ihn zurück, sodass er nach 30 Jahren wieder alleiniger Eigentümer ist.

Parallel müssen die Käufer ihre Hypothek linear reduzieren, sodass diese nach 30 Jahren komplett amortisiert ist. Die Käufer zahlen ausserdem dem Investor jährlich eine Gebühr für dessen eingesetztes Kapital und für die Substanzerhaltung der Gebäudeteile ausserhalb der einzelnen Wohnungen.

Ein Wertzuwachs des Gebäudes gehört dem Investor, doch es gibt vertragliche Regeln, mit denen auch die Wohneigentümer von einer Wertsteigerung profitieren. 30 Jahre lang können die Käufer frei über die Wohnung verfügen: Sie können sie etwa dem Investor für einen definierten Preis zurückverkaufen, sie vermieten oder auch für den Rest der Laufzeit vererben.

Die wichtigsten Vorteile für Käuferinnen und Käufer

  • Kaufpreis nur 30 Prozent des Werts
  • günstiger als Miete
  • freie Verfügbarkeit für 30 Jahre
  • kein Risiko einer Wohnungskündigung
  • Hypothek reduziert Steuerbelastung
  • keine Steuern auf dem Eigenmietwert
  • kein Wiederkauf am Ende der Laufzeit nötig

Die wichtigsten Vorteile für Investoren

  • nur 70 Prozent des Kapitals in Immobilie gebunden
  • gutes Rendite-Risiko-Profil
  • keine Leerstände wegen Wechseln der Mieterschaft
  • nach 30 Jahren Modernisierung auf aktuellen Stand möglich

Mehr Informationen finden Sie hier.

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Warum hat die Genossenschaft dieses Modell gewählt? Die Wohnungen haben laut Herbster eine relativ grosse Fläche, erfüllen den Minergie-P-Standard und würden entsprechend hohe Mieten erfordern. Da kommt Wohneigentum auf Zeit günstiger zu stehen. Herbster rechnet damit, dass die monatliche Belastung für die Käufer um 10 bis 20 Prozent unter der Marktmiete liegen wird. Ausserdem gebe es in der Region schon ein breites Angebot an vergleichbaren Mietwohnungen. «Wohneigentum auf Zeit ermöglicht mehr Interessierten den Zugang zu Eigentum.»

Als weiteren Vorteil sieht er, dass es mit WAZ einfacher als im klassischen Stockwerkeigentum ist, die Wohnungen eines Tages zu sanieren. Tatsächlich bilden viele Stockwerkeigentümergemeinschaften eher zu wenig Rücklagen für spätere Modernisierungen und schieben diese deshalb gern auf die lange Bank.

Und nicht zu vergessen: Mit WAZ behält die Genossenschaft langfristig die Kontrolle über die Wohnungen und gibt sie nur vorübergehend aus der Hand.

«Ein klassisches Huhn-Ei-Problem»

Es erstaunt, dass bis jetzt nur einzelne Projekte mit Wohneigentum auf Zeit existieren. An potenziellen Käuferinnen und Käufern scheint es nicht zu fehlen. Die Hochschule Luzern führte 2016 eine Umfrage zum WAZ durch. «Die Akzeptanz auf der Nachfrageseite ist gross», sagt Projektleiterin Yvonne Seiler Zimmermann. Mehr als 70 Prozent der Befragten zögen WAZ für sich in Betracht. Für die Mieterschaft seien die niedrigen Kosten interessant, für die Eigentümer sei es der Umstand, dass sie sich nicht um einen Verkauf kümmern müssen.

Warum wird es dann nicht häufiger angeboten? «Es ist ein klassisches Huhn-Ei-Problem», so die Expertin. «Die Investoren sagen, die Nachfrage fehle, und auf der Nachfrageseite heisst es, das Angebot sei nicht da.»

«Geistige Immobilität» der Immobilienbranche

Auch WAZ-«Erfinder» Mischa Folger beklagt, dass das Angebot fehle. Er wirft der Immobilienbranche «geistige Immobilität» vor. «Wir haben es in der Schweiz mit grossen Widerständen zu tun, wenn es um etwas Neues geht.» Auch die Banken seien sehr oft zurückhaltend. Sie hätten sich häufig geweigert, für eine Wohnung zwei Schuldner – die Käuferin und den Investor – zu akzeptieren.

Das Hauptproblem sei aber, so Folger, die im Vergleich zum Stockwerkeigentum niedrigere Hypothek, die auch noch in 30 Jahren amortisiert wird. Mit anderen Worten: Die Banken haben mehr Aufwand, verdienen aber weniger als mit hohen Krediten, die möglichst nie komplett zurückgezahlt werden. «Es ist für die Banken zwar kein Risiko – aber auch kein gutes Geschäft.»

Auch ökologische Vorteile

Trotzdem: Für Yvonne Seiler Zimmermann von der Hochschule Luzern entspricht WAZ dem Zeitgeist. Man denke heute eher in Lebenszyklen. «Vor allem die Jungen müssen nicht mehr alles besitzen.»

Ausserdem wollten viele Leute heute nicht mehr 100 Prozent arbeiten, weshalb ihr Einkommen weniger stabil sei als früher. «Da kann es attraktiv sein, wenn weniger Kapital gebunden ist.»

Als Investoren sieht Zimmermann vor allem Pensionskassen, da WAZ zu deren langfristigen Verpflichtungen passe. Und man dürfe nicht vergessen, dass WAZ ökologisch vorteilhaft sei. Mit diesem Konzept könne man Gebäude alle 30 Jahre auf den aktuellen Stand bringen. «Wir haben heute viele Immobilien mit einem Sanierungsstau.»

So bleibt zu hoffen, dass Investoren geistig mobiler werden. Für mehr Tempo beim Klimaschutz – und für jene, die eine Wohnung kaufen wollen und es heute nicht mehr können.

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