Prämien-Hammer ist zu viel
Selbständige sind bei Krankheit oft nicht mehr versichert

Es wird immer schwieriger, eine bezahlbare Taggeldversicherung zu finden. Versicherungs- und Arbeitgeberverband wollen trotzdem kein Obligatorium.
Publiziert: 12.07.2024 um 17:15 Uhr
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Gian Signorell
Beobachter

Mehr als zehn Jahre lang führte Daniela Schwendener in der Zentralschweiz einen eigenen Coiffeurbetrieb. Gleichzeitig kümmerte sie sich um ihren Partner, der Multiple Sklerose hat.

Die Doppelbelastung zehrte an ihren Kräften, im November 2022 erlitt sie einen Zusammenbruch und musste acht Monate pausieren. Schwendener heisst in Wirklichkeit anders. Ihren richtigen Namen möchte sie nicht in den Medien lesen. 

Mit der Versicherung vor den Friedensrichter

Ihren Lohnausfall übernahm zuerst die Taggeldversicherung. Doch als sich Schwendener weigerte, Antidepressiva zu schlucken, stellte die Versicherung die Zahlungen ein – mit der Argumentation, sie habe ihre Pflicht zur Schadensminderung verletzt.

Armutsfalle: Wenn eine Taggeldversicherung fehlt, kann das für alle Betroffenen schlimme Folgen haben.
Foto: Keystone

Daniela Schwendener nahm sich eine Anwältin. Vor dem Friedensrichter lenkte die Versicherung ein und übernahm drei Viertel der geforderten Zahlungen, rund 18’000 Franken.

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Die Prämie hätte sich verdreifacht

Seit Februar dieses Jahres steht Schwendener wieder Vollzeit in ihrem Coiffeursalon. Gegen Krankheit ist sie aber nicht mehr versichert. Denn: Sie hat schlicht keine Offerte erhalten, die für sie tragbar ist.

«Mit der alten Versicherung wollte ich nichts mehr zu tun haben. Das beste neue Angebot belief sich auf 5000 Franken. Gegenüber früher fast eine Verdreifachung, das kann ich mir nicht leisten», sagt Schwendener. Sie will für den Fall von weiteren Schicksalsschlägen selbst eine Reserve ansparen. «Ich hoffe einfach, dass ich gesund bleibe.» 

In den Medien häufen sich Berichte über ähnliche Fälle. Eine Arztpraxis in Lausanne musste gemäss dem Westschweizer Radio RTS eine Verdoppelung der Prämie hinnehmen, weil im Abstand von wenigen Wochen zwei Praxisassistentinnen krank geworden waren.

Im «Kassensturz» kam der Chef einer Basler Reinigungsfirma zu Wort, der seit mehr als einem Jahr vergeblich versucht, eine neue Taggeldversicherung abzuschliessen. Die alte Versicherung hatte die Police gekündigt, weil innerhalb von zwei Jahren drei Mitarbeitende für längere Zeit wegen Krankheit ausgefallen waren. 

«Sanierung» bedeutet Prämienerhöhung

Sind das Einzelfälle? Das zumindest behauptet der Schweizerische Versicherungsverband (SVV): «In aller Regel finden Unternehmen einen Krankentaggeldversicherer. Die in den Medien genannten Fälle sind Ausnahmen», sagt SVV-Mediensprecher Thilo Kleine. Wenn eine Firma eine schlechte Schadensbilanz habe, erfolge immer zuerst eine «Sanierung» mit einer entsprechenden Offerte. Eine Kündigung sei nur die Ultima Ratio. 

«Sanierung» klingt gut, ist meist aber bloss ein schöneres Wort für Prämienerhöhung. Sie kann happig ausfallen. «Wir haben schon Fälle gesehen, bei denen die neue Police um das Siebenfache teurer wurde», sagt Oliver Hedinger vom VZ Vermögenszentrum, das Firmen und Selbständige berät.

Nach ein paar Wochen gibts kein Geld mehr

Die meisten Krankentaggeldversicherungen bezahlen 80 Prozent des Lohns während 720 Tagen. Die Prämie fällt umso günstiger aus, je später die Versicherung bei einem Arbeitsausfall einspringen muss. Häufig vorgesehen ist eine Wartefrist von 30 Tagen.

Eine Taggeldversicherung ist für den Arbeitgeber freiwillig, die Lohnfortzahlung bei Krankheit aber nicht. Wenn Angestellte im ersten Dienstjahr krank werden, muss ihnen der Chef mindestens drei Wochen lang den Lohn zahlen. Bei mehr als einem Dienstjahr sieht das Gesetz «eine angemessen längere Zeit» vor. Die kantonalen Gerichte haben die Dauer je nach Dienstalter bei zwei bis maximal vier Monaten festgesetzt.

In Zürich und Graubünden liegt die maximale Dauer bei 17 Wochen. Danach muss die erkrankte Person auf eigene Reserven zurückgreifen oder Hilfe beim Sozialamt beantragen.

Abstieg in die Armut

Wenn eine Taggeldversicherung fehlt, kann das für alle Betroffenen schlimme Folgen haben. Für kleine Firmen kann es schon existenzbedrohend werden, wenn mehrere Mitarbeitende gleichzeitig oder kurz hintereinander ausfallen und sie deren Löhne die obligatorischen zwei bis vier Monate weiterzahlen müssen. Selbständigen und Arbeitnehmenden droht bei langen, schweren Krankheiten wie Krebs gar der Abstieg in die Armut. 

Der ehemalige Tessiner Mitte-Nationalrat Marco Romano möchte deshalb, dass es obligatorisch wird, eine Taggeldversicherung abzuschliessen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Immerhin unterstützen 21 Rechtsprofessorinnen und Rechtsprofessoren in einem Brief ans Parlament den Vorschlag. «Heute ist man je nach Arbeitssituation bestens abgesichert, oder man fällt zwischen Stuhl und Bank. Das ist für einen Rechtswissenschaftler äusserst störend», sagt Kurt Pärli, Professor für soziales Privatrecht an der Universität Basel, der sich seit 30 Jahren mit dem Thema befasst. Er hat den Brief initiiert.

Die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit hat nun in der vergangenen Frühlingssession verlangt, der Bundesrat solle in einem Bericht Lösungen für das Problem aufzeigen. Wenn der Ständerat diesem Vorstoss zustimmt, muss der Bundesrat handeln. 

«Falsche Anreize»

Das drohende Obligatorium dürfte mit ein Grund sein, warum der SVV bloss «Einzelfälle» und «Ausnahmen» sieht. Der Verband lehnt ein Obligatorium strikt ab. Es würde «nicht die erhoffte Wirkung erzielen und aufgrund falscher Anreize den Trend der steigenden Kosten und Prämien nur verschärfen», sagt Sprecher Thilo Kleine. 

Etwas anders sieht es der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV). «Der SAV anerkennt, dass es insbesondere für kleinere Unternehmen, die in einem gewissen Zeitraum viele Krankheitsfälle hatten, schwierig sein kann, noch bewältigbare Konditionen von den Versicherungen zu erhalten», schreibt der Verband auf Anfrage des Beobachters. Ein Obligatorium lehnt er aber ab. Es gelte, die Wahlfreiheit der Firmen zu wahren.

Eine Möglichkeit für betroffene Firmen könne sein, sich mit anderen zusammenzuschliessen, um eine Krankentaggeldversicherung auszuhandeln.

Sogar der Kanton Bern hat keine Taggeldversicherung

Ganz so einfach, wie es sich der SAV vorstellt, scheint die Lösung aber nicht zu sein. Sogar wenn nicht irgendeine Firma, sondern der Staat eine solche sucht. Der Kanton Bern etwa schrieb seine Taggeldversicherung öffentlich aus – und erhielt bloss eine wesentlich teurere Offerte des bisherigen Versicherers.

Gründe sind laut dem stellvertretenden Generalsekretär der Finanzdirektion, Lukas Röthenmund, zum einen die konstant hohe Schadensbelastung der Police, dass die Versicherung also wegen vieler Arbeitsausfälle häufig einspringen musste. Zum anderen habe sich der Taggeldversicherungsmarkt in den letzten Jahren generell deutlich verhärtet.

«Viele Versicherungsgesellschaften betreiben aktive Risikoselektion und offerieren in aller Regel nur noch Prämien mit einer entsprechend hohen Sicherheitsmarge», so Röthenmund. Mit anderen Worten: Falls die Versicherung das Risiko hoch einschätzt, Leistungen erbringen zu müssen, verlangt sie sehr hohe Prämien.

Seit gut einem halben Jahr hat der Kanton Bern nun keine Krankentaggeldversicherung mehr. Wenn Mitarbeitende krank werden, übernimmt der Kanton die Lohnfortzahlung zu gleichen Bedingungen wie früher – aus eigener Kasse.

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