Star-Ökonom Stiglitz über Corona, Krieg, Inflation
«Jetzt muss für einmal auch die Schweiz zahlen!»

Die Weltwirtschaft steuert auf den perfekten Sturm zu. Das System droht zusammenzubrechen, sagt der amerikanische Star-Ökonom Joseph Stiglitz (79) im grossen Blick-Interview am WEF in Davos. Der Nobelpreisträger fordert die Schweiz auf, im Ukraine-Krieg mehr zu zahlen.
Publiziert: 25.05.2022 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 25.05.2022 um 14:03 Uhr
Christian Kolbe und Nicola Imfeld

Joseph Stiglitz (79) ist Dauergast am WEF. Er gilt als einer der wichtigsten Ökonomen weltweit, seine Stimme hat Gewicht – nicht nur in Davos. Für Blick nimmt er sich viel mehr Zeit als ursprünglich geplant, der Nobelpreisträger fühlt sich sichtlich wohl beim Gespräch. Das Interview findet in seinem Lieblingshotel Casanna in Davos statt. Hier begrüsst er das Personal mit dem Vornamen, lässt sich nicht einmal von den WEF-Organisatoren in ein anderes Haus umquartieren.

Blick: Der Ukraine-Krieg, Corona, Inflation, Probleme mit globalen Lieferketten – steuert die Weltwirtschaft gerade auf den perfekten Sturm zu?
Joseph Stiglitz: Ich befürchte es. Es häufen sich eine ganze Reihe schlechter Ereignisse. Die Frage ist dann auch immer, wie gut diese Krisen gemanagt werden. Und da versagen wir leider. Corona hat offenbart, was wir eigentlich hätten erkennen müssen: die mangelnde Widerstandsfähigkeit der Marktwirtschaft.

Erklären Sie.
Mitten in der Pandemie konnten wir keine Masken und keine Schutzausrüstungen herstellen. Die Kurzatmigkeit der Unternehmen war bemerkenswert. Stellen Sie es sich so vor: Ein Autobauer stellt Fahrzeuge ohne Ersatzreifen her. Wenn nichts schiefgeht, läuft das wie geschmiert – man spart sogar noch Geld. Aber sobald man eine Panne hat, ist man aufgeschmissen. Das passiert gerade mit unserer Wirtschaft. Und die russische Invasion in der Ukraine hat die Situation weiter verschärft – das System droht zusammenzubrechen.

US-Starökonom Joseph Stiglitz hat Blick zum grossen Interview im Hotel Cassano in Davos empfangen.
Foto: Nicola Imfeld
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Waren wir zu naiv?
Ja. Die Wirtschafts- und Politelite hat nicht erkannt, wie schlecht die Marktwirtschaft war. Ich habe bereits im Jahr 2006 in meinem Buch «Die Chancen der Globalisierung» von der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas gewarnt. Die Regierung in Berlin war blind – es war doch offensichtlich, dass Russland kein verlässliches Land ist, und man auf Putin nicht vertrauen kann.

Nobelpreisträger aus den USA

Die Bücher von Joseph Stiglitz (79) gehören zu den Bestsellern der Wirtschaftswissenschaften. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen gilt der Professor an der renommierten Columbia University in den USA als eher linksliberal. Von 1997 bis 2000 war Stiglitz Chefökonom der Weltbank. 2001 erhielt er für seine Arbeiten über das Verhältnis von Information und Märkten zusammen mit zwei Kollegen den Wirtschaftsnobelpreis. Stiglitz ist Vater von vier Kindern und seit 2004 in dritter Ehe verheiratet mit der Journalismus-Professorin Anya Stiglitz (59).

Die Bücher von Joseph Stiglitz (79) gehören zu den Bestsellern der Wirtschaftswissenschaften. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen gilt der Professor an der renommierten Columbia University in den USA als eher linksliberal. Von 1997 bis 2000 war Stiglitz Chefökonom der Weltbank. 2001 erhielt er für seine Arbeiten über das Verhältnis von Information und Märkten zusammen mit zwei Kollegen den Wirtschaftsnobelpreis. Stiglitz ist Vater von vier Kindern und seit 2004 in dritter Ehe verheiratet mit der Journalismus-Professorin Anya Stiglitz (59).

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Aber wenn es so offensichtlich war, wie Sie behaupten, warum hat dann niemand in Deutschland den Kurs geändert?
Es hätten wohl mehr Leute mein Buch lesen sollen (lacht). Ernsthaft: Es gab in Deutschland wohl auch Personen mit gewissen finanziellen Interessen.

Sie sprechen Ex-Kanzler Gerhard Schröder an?
Er war eine Peinlichkeit. Bei Schröder riecht es schon etwas nach Korruption. Andererseits gab es in Deutschland auch einen Konsens, dass Russland mit dieser Politik zu zähmen sei. Da hat man sich verzockt – das Risiko war von Anfang an viel zu gross.

Da machen Sie es sich als Amerikaner einfach. Sie schieben die ganze Schuld auf die Deutschen ab.
Nein, ich will Deutschland nicht anschwärzen. Die amerikanischen Unternehmen waren genauso kurzsichtig. Auch sie können Risiken nicht gut einschätzen. Das haben wir zum Beispiel 2008 in der globalen Finanzkrise gesehen.

Die Vergangenheit kann man nicht mehr ändern. Was können wir jetzt tun, um den perfekten Sturm abzuschwächen?
Längerfristig müssen wir unbedingt unsere Wirtschaft stärker diversifizieren. Kurzfristig dürfen die Notenbanken nicht dem üblichen Reflex nachgeben, indem sie die Leitzinsen signifikant erhöhen. Denn eine Verringerung der Nachfrage durch höhere Zinsen wird weder die Nahrungsmittel- noch die Energieprobleme lösen. Das Resultat wäre eine Rezession und eine globale Finanzkrise.

Das sind die Highlights der beiden letzten WEF-Tage

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (63) wird am Donnerstag mit seinem Auftritt das diesjährige Jahrestreffen des World Economic Forums (WEF) in Davos beschliessen. Davor stehen am Mittwoch noch einige andere wichtige Themen auf der Agenda: zum Beispiel der Kampf gegen die drohende Hungerkrise in vielen Ländern. Welche Massnahmen müssen jetzt ergriffen werden, um eine Katastrophe zu verhindern, die vom Krieg in der Ukraine ebenso befeuert wird wie vom Klimawandel? Die gleiche Frage lässt sich auch zum Thema Corona stellen, das spätestens im Herbst wieder aktuell werden könnte. Antworten könnte Pfizer-CEO Albert Bourla (60) im Gespräch mit WEF-Gründer Klaus Schwab (84) liefern. Zur Pandemie wird sich heute sicher auch Microsoft-Gründer Bill Gates (66) äussern, der zu den Stammgästen am WEF gehört.

Alles zum Geschehen am WEF in Davos auf Blick.ch.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (63) wird am Donnerstag mit seinem Auftritt das diesjährige Jahrestreffen des World Economic Forums (WEF) in Davos beschliessen. Davor stehen am Mittwoch noch einige andere wichtige Themen auf der Agenda: zum Beispiel der Kampf gegen die drohende Hungerkrise in vielen Ländern. Welche Massnahmen müssen jetzt ergriffen werden, um eine Katastrophe zu verhindern, die vom Krieg in der Ukraine ebenso befeuert wird wie vom Klimawandel? Die gleiche Frage lässt sich auch zum Thema Corona stellen, das spätestens im Herbst wieder aktuell werden könnte. Antworten könnte Pfizer-CEO Albert Bourla (60) im Gespräch mit WEF-Gründer Klaus Schwab (84) liefern. Zur Pandemie wird sich heute sicher auch Microsoft-Gründer Bill Gates (66) äussern, der zu den Stammgästen am WEF gehört.

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Die amerikanische Notenbank Fed macht genau das Gegenteil – sie erhöht die Zinsen.
Eine kleine Erhöhung der Zinssätze ist in Ordnung. Aber nochmals: Damit löst man keine Probleme, man verlagert sie nur. Ich befürchte, dass die Fed zusammen mit weiteren Zentralbanken die Geldpolitik zu sehr straffen wird. Die Zinssteigerungen als Reaktion auf steigende Inflation liegt sozusagen in ihren Genen.

Aber irgendetwas muss doch getan werden, um den Preisdruck auf die Bevölkerung abzufedern?
Ich plädiere für einen Inflationsbonus für alle Menschen in Europa und Amerika.

Wie soll ein solcher aussehen?
Steuerrabatte. Nicht dauerhaft, aber vorübergehend. Wir müssen der Bevölkerung entgegenkommen. Denn die Amerikaner und Europäer leiden unter dem Krieg in der Ukraine, den die westliche Welt mit ukrainischen Soldaten führt. Es gibt entsprechende Gesetzesentwürfe im US-Kongress, aber leider hat sich Präsident Joe Biden bisher nicht dafür ausgesprochen.

Die Europäer bezahlen den grösseren Preis für den Krieg.
Richtig. Es sollte eine gerechtere Verteilung der Last geben – wir müssen mehr bezahlen. Aber versuchen Sie einmal, das dem amerikanischen Kongress klarzumachen. Viele vertreten die Ansicht, dass man sie für einen Krieg zur Tasche bittet, den sie hauptsächlich als einen Streit in Europa betrachten. Das ist natürlich Schwachsinn. Der Krieg in der Ukraine betrifft uns alle.

Auch die Schweiz. Machen wir genug?
Nein. Jetzt muss für einmal auch die Schweiz zahlen und mithelfen! Ihr müsst nicht dauerhaft solidarische Ausgleichszahlungen leisten, aber in dieser Krisenlage ist es nötig. Der perfekte Sturm kann nur mit einem gemeinsamen Effort abgeschwächt werden.

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