Wachstumswunder ist vorbei
Das Land der untergehenden Wirtschaft

China war lange der Wachstumsmotor der Weltwirtschaft. Das war einmal. Die Volksrepublik steckt im Schlamassel. Blick nennt die Gründe.
Publiziert: 16.08.2023 um 19:41 Uhr
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Aktualisiert: 17.08.2023 um 16:08 Uhr
Die Konjunkturdaten dieser Woche zeigen: Die chinesische Wirtschaft stottert.
Foto: imago/VCG
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Martin SchmidtRedaktor Wirtschaft

Der chinesische Wirtschaftsmotor stottert gewaltig, wie die Konjunkturdaten von dieser Woche zeigen. Die Industrieproduktion stieg im Juli um 3,7 Prozent, der Einzelhandel legte um 2,5 Prozent zu. Vor Covid war sich China an Wachstumsraten im hohen einstelligen Bereich gewohnt. Nicht besser sieht es im Bausektor aus: Die Investitionen in Immobilien sanken um weitere 8,5 Prozent.

Die Zahlen sind noch schlechter als von den meisten Analysten erwartet und liessen die Displays an den weltweiten Börsen rot aufleuchten – auch in der Schweiz.

Die Volksrepublik steckt mit allen Rädern tief im Schlamm. Was sind die Gründe? Was bedeutet das für die Schweiz? Und kann die Kommunistische Partei mit Präsident Xi Jinping (70) den Karren zurück in die Spur bringen? Blick liefert die wichtigsten Fakten.

Auswirkungen für die Schweiz

Die Schweiz hat im letzten Jahren inklusive Goldwaren für 20,6 Milliarden von China importiert – aber Waren im Wert von 42,1 Milliarden Franken dorthin exportiert. Damit steht China mit sieben Prozent des Exportvolumens hinter den USA und Deutschland auf Platz drei. «Wächst China nun weniger schnell, ist der Effekt für die Schweizer Exportindustrie sicher spürbar, aber insgesamt nicht dramatisch», sagt Fredy Hasenmaile (56), Chefökonom von Raiffeisen Schweiz. Hinzu kämen jedoch noch indirekte Effekte: «Die Tage Chinas als Wachstumslokomotive Nr. 1 der Weltwirtschaft sind gezählt. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Schweiz», so Hasenmaile.

Immobiliensektor als grosse Hypothek

Lange Zeit war Beton in China wortwörtlich Gold. «Der Immobiliensektor war für bis zu einem Drittel des chinesischen Wachstums verantwortlich», sagt China-Experte Michael Settelen (40). Settelen ist Berater beim Forschungs- und Beratungsunternehmen China Macro Group. «Die Privathaushalte legten mangels Alternativen bis zu 80 Prozent ihrer Vermögen in Immobilien an», sagt er. Die Immobilienpreise sind dank einer impliziten Staatsgarantie kontinuierlich gestiegen. Doch das war einmal.

Chinas Wachstum geschah nach der Finanzkrise zu einem grossen Teil auf Pump und führte zu einer immer gefährlicher werdenden Immobilienblase. Die Regierung wollte diese Risiken in den Griff bekommen und griff ein. Seit Monaten befinden sich die Preise im Sinkflug. Nach der staatlichen Rettung des Immobilienkonzerns Evergrande steht mit Country Garden der nächste Riese vor der Pleite. Der einstige Boom ist für China zur gewaltigen Hypothek geworden. «Die leicht rückläufige Bevölkerungszahl Chinas dürfte die Nachfrage nach Immobilien auch strukturell schmälern und so die Preise künftig weiter unter Druck setzen», so Settelen.

Bevölkerung fehlt die Kaufkraft

Die Chinesen kaufen zu wenig: Während der Konsum der Privathaushalte in den OECD-Staaten 65 Prozent der Grösse des Bruttoinlandprodukts beträgt, liegt dieser Wert in China gerade mal bei 38 Prozent. «Im Vergleich zu den Produktivitätsgewinnen sind die Löhne in China weniger stark gestiegen», sagt Settelen. Die tiefen Löhne spielen für China als Exportnation nach wie vor eine grosse Rolle. Damit fehlt jedoch der Inlandskonsum als Wirtschaftstreiber. Der China-Experte sieht noch ein weiteres Problem für die Konsumflaute im Inland: «Fehlende lukrative Anlagemöglichkeiten, zum Beispiel eben im derzeit schwächelnden Immobiliensektor, schränken die Haushaltseinkommen weiter ein, und eine noch nicht ausgebaute soziale Absicherung lässt die Menschen eher sparen als konsumieren.»

Der schwierige Umbau

China steckt in einem Dilemma: Die Regierung möchte mehr technologisch hochwertige Produkte produzieren, wie es China beispielsweise in der Automobilbranche geschafft hat. Auf breiter Basis gelingt dies noch nicht. Wenig förderlich ist hierbei auch der Wirtschaftskrieg mit den USA. Die turbulenten Rahmenbedingungen schrecken Investoren aus der ganzen Welt ab. Es fliesst deutlich weniger Geld nach China.

Ein weiteres Hemmnis für den Umbau: China will seine Position als starke Exportnation nicht verlieren – viele Produkte werden nach wie vor im Niedriglohn-Sektor hergestellt.

Schulden schränken Handlungsspielraum ein

Chinas Schulden sind fast dreimal so gross wie das Bruttoinlandprodukt. In der Vergangenheit hat der Staat mit riesigen Infrastrukturprojekten das Wachstum gestützt. «Mittlerweile muss der Staat jedoch rund fünf Prozent seines Budgets für die Schuldzinsen aufbringen. Das schränkt den Handlungsspielraum für die Regierung ein», sagt China-Experte Settelen. Zum Vergleich: Das reale BIP ist im letzten Jahr um knapp 3 Prozent gewachsen – die Zinsen drohen also, das Wachstum aufzufressen.

Besonders die Lokalregierungen spielten mit dem Verkauf von Land an Immobilienentwickler eine wichtige Rolle. Doch diese Investitionen in den Regionen und Einnahmen für die Behörden fehlen heute. Die mitunter durch die Covid-Massnahmen stark angestiegenen Schuldenberge bei den Lokalregierungen türmen sich immer höher auf. Sie müssen mittlerweile über zehn Prozent ihrer Einnahmen zur Zinstilgung einsetzen.

Gleichzeitig hat in den letzten Jahren die Verschuldung der Privathaushalte und Firmen – nicht zuletzt im Staatssektor – erheblich zugelegt.

Jugendarbeitslosigkeit und bröckelnder Rückhalt?

Seit dieser Woche publiziert China keine Zahlen mehr zur Jugendarbeitslosigkeit. Mehr als jeder fünfte junge Chinese fand zuletzt keinen Job. Die Regierung könnte damit an Rückhalt in der Bevölkerung verlieren. «Als autoritäres Regime ist die Volksrepublik China letztlich aber nicht direkt vom Rückhalt der Bevölkerung abhängig und kann Unmutsbekundungen oder eventuelle Proteste gut eindämmen», sagt Ralph Weber (47), China-Experte an der Uni Basel, zu Blick. Die Regierung werde weiterhin am Narrativ einer Nation festhalten, die ökonomisch immer weiter aufsteigt und die stärkste Wirtschaft der Welt sein wird.

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