Wo schlummern die Risiken?
Die Krankenakte der Weltwirtschaft

Die Konjunktur brummt und die Prognostiker unter den Ökonomen geben sich optimistisch für die Zukunft. Doch in der Weltwirtschaft lauern Gefahren.
Publiziert: 22.01.2018 um 12:25 Uhr
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Aktualisiert: 14.09.2018 um 16:25 Uhr
Über zwei Drittel des gesamten Frachtaufkommens weltweit werden heute über die Weltmeere verschickt.
Foto: Miguel Navarro
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René Lüchinger

Die Weltwirtschaft ist ein zartes Wesen. Vor zehn Jahren lag sie auf dem Krankenbett: ausgezehrt von einer weltumspannenden Finanz- und Schuldenkrise. Ökonomen fürchteten, die Kraftlosigkeit könne sich zum chronischen Leiden auswachsen.

Doch der Patient ist dem Tod noch einmal vom Karren gesprungen und strotzt vor neu antrainierter Muskelkraft. Zumindest, wenn man jenen Glauben schenkt, die sich professionell mit der globalen Konjunktur befassen. Die ist so etwas wie der Blutdruck einer gesunden Weltwirtschaft und erlebt – so etwa die Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH Zürich – einen kräftigen Aufschwung.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) prognostiziert «im Zuge des weltwirtschaftlichen Aufschwungs» für 2018 auch ein Wachstum des Schweizer Bruttoinlandprodukts von 2,3 Prozent, für 2019 immer noch «solide 1,9 Prozent». Alles easy also!

Die Protagonisten der Weltwirtschaft dürfen also nächste Woche entspannt an das World Economic Forum (WEF) eilen, um die traditionelle Audienz von Klaus Schwab über sich ergehen zu lassen. Noch letztes Jahr hat der stets besorgte WEF-Chef «grundlegende Reformen der kapitalistischen Marktwirtschaft» propagiert. Jetzt fordert er «das Schaffen einer gemeinsamen Zukunft in einer zerrissenen Welt». Wen kümmern noch diese alljährlichen Mahnungen, wo doch die Weltwirtschaft brummt wie ein Jungspund?

Ablagerungen im Maschinenraum

Was aber, wenn der Professor recht hat und sich in der kapitalistischen Marktwirtschaft, dem Maschinenraum der Weltwirtschaft, Ablagerungen gebildet haben, die ernsthafte Gesundheitsrisiken bergen? In der Krankenakte der Weltwirtschaft stehen drei kritische Befunde:

Das «America first» des US-Präsidenten schmeckt nach Protektionismus der grössten Volkswirtschaft der Welt. Die USA haben sich von der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zurückgezogen, das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (Nafta) will Donald Trump neu verhandeln. Ein Angriff auf die Globalisierung, die doch gemeinhin als Vitaminpille für die Weltwirtschaft gilt.

Doch die USA schieben ein Handelsbilanzdefizit von 800 Milliarden Dollar vor sich her und sind für Exporteure ein riesiger Markt. Dieses Pfand setzt Trump nun ein, um für die USA vorteilhaftere Handelsverträge herauszuschlagen. «Mit dem grössten Markt und dem höchsten Handelsbilanzdefizit sind die USA in einer starken Position gegenüber anderen Nationen», heisst es in einer Studie der deutschen Hans-Böckler-Stiftung.

Trumps Strategie ist nicht neu: Schon sein Vorgänger Ronald Reagan drohte in den 80er-Jahren mit Abschottung, weil andere Länder mit angeblich unfairen Methoden hohe Handelsbilanzüberschüsse erzielt hatten: gleiche Rhetorik, gleiche Absichten. Die Folge sind Spannungen und Verspannungen in der Weltwirtschaft. Beides ist bekanntlich der Gesundheit abträglich.

Trump weiss um die Wirtschaftsmacht, die er repräsentiert. Und er weiss auch, wie er sie in politische Macht verwandeln kann: Er will keine Freihandelsverträge mit einer ökonomisch nahezu ebenbürtigen EU aushandeln, sondern mit einzelnen Mitgliedstaaten. Brüssel wiederum lässt nach dem Brexit seine Muskeln spielen, um Grossbritannien die Austrittsbedingungen zu diktieren.

Beide wissen: Der Kleine hat gegen den Grossen keine Chance. Medizinern hingegen ist bekannt, dass zu hoher Druck den freien Fluss der Energien in einem Organismus hemmt – und dass dies langfristig zu Gesundheitsproblemen führen kann.

Praktisch zeitgleich mit der Finanzkrise lancierte Apple-Gründer Steve Jobs im September 2007 sein iPhone und brachte damit das Internet in die Hosentasche. Seitdem haben Datenverarbeitung, künstliche Intelligenz und die Verwendung von Algorithmen exponentiell zugenommen: Die vierte industrielle Revolution bringt eine Automatisierung und Digitalisierung von nie gekanntem Ausmass. Wie wird sich dieser technologische Wandel, der erst am Anfang steht, auf Arbeit, Jobs, Löhne und Politik auswirken?

Ein Blick zurück hilft

Niemand weiss es genau. Aber die Geschichte lehrt, dass alle vorangegangenen industriellen Revolutionen die Transformation von alten Arbeitsplätzen in neue bewirkte, dass sie langfristig Wachstum und Wohlstand für immer mehr Menschen produzierte. Die Übergangskosten freilich waren enorm.

Sie sind es im Grunde bis heute – ob in der EU, den USA oder der Schweiz: Verbliebene Bauern werden mit Milliarden subventioniert, auch die Reallöhne stiegen im Verhältnis zum Produktivitätsfortschritt in dieser Transformation nur unterdurchschnittlich, wie historische Studien belegen. Noch heute wächst die Wirtschaft schneller als das Lohnniveau.

Der Tsunami der industriellen Transformation befeuerte die Thesen eines Karl Marx, der die soziale Verelendung des Proletariats beschrieb. «Er verstand und schilderte lebhaft die Übergangskosten», urteilt der US-Ökonom Tyler Cowen. Der deutsche Erfinder der politischen Ökonomie bescherte der Welt den Kommunismus – heute kommt die Opposition gegen die herrschenden Verhältnisse vom rechten Rand, etwa von der AfD oder dem Front National.

Der Übergang ins Digitale, so viel ist klar, wird in der Weltwirtschaft schmerzhafte Wunden schlagen.

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