Zehn Jahre nach dem Kollaps: Drei Lehman Brothers erzählen
«Vier Mal den Lohn als Bonus»

Der Kollaps ihrer Bank hätte beinahe das globale Finanzsystem in den Abgrund gerissen. Was denken ehemalige Angestellten heute, 10 Jahre danach. Eine exklusive Innensicht.
Publiziert: 11.09.2018 um 13:49 Uhr
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Aktualisiert: 29.10.2018 um 11:11 Uhr
Ex-Mitarbeiter von «Lehman Brothers» packt aus
2:35
Marco Rodzynek im BLICK-Interview:Ex-Mitarbeiter von «Lehman Brothers» packt aus
Harry Büsser

Vor zehn Jahren trugen sie ihr Büromaterial in Kartonschachteln auf die Strasse. Heute will darüber kaum einer reden. 25'000 Angestellte hatte die Investmentbank Lehman Brothers vor der Pleite. Das SonntagsBlick-Magazin hat fast hundert von ­ihnen freundlich angeschrieben und gefragt, ob wir mit ihnen über diese Zeit ­reden dürfen.

Viele bleiben stumm, ein Teil sagt ab, ein Aktienverkäufer antwortet: «Nein, darfst Du nicht, Du Wixer! (...) Du Arschloch. (...) Figg Dich hart!», schreibt er zurück.

Einige reden, wollen aber nicht zitiert werden. Alle haben die Zeit bei Lehman in guter Erinnerung, sprechen von der Lehman-Kultur, die von starkem Zusammenhalt geprägt war. Drei ehemalige Lehman Brothers sind bereit, über ihre ­Vergangenheit zu reden: Marco Rodzynek (43), zehn Jahre bei der Bank, Justus Lampe, Jan Brandes.

Sie sitzen auf einem gigantischen Sofa im Salon von Rodzyneks Villa in Horw LU über dem Vierwald­stättersee und reden offen über ihre Vergangenheit bei der Invest­mentbank. Brandes sagt: «Ich habe mich im goldenen Käfig sehr wohlgefühlt. Ich hätte es noch einige Jahre bei Lehman Brothers aus­gehalten.» Für die Pleite hat er eine einfache Erklärung: «Was ­erlaubt wird, wird gemacht. Wenn ­etwas funktioniert, wird immer mehr davon gemacht, bis es ex­plodiert. »

Rund zwei Dutzend Mitarbeiter

Sein Kollege Lampe erklärt die ­Betriebskultur: «Wer ein grosses Geschäft abgeschlossen hatte, erhielt einen Big Deal Award. Diesen konnte man auf seinen Schreibtisch stellen.»

Am meisten aber erzählt Rod­zynek. Er habe nichts mit den Hypo­thekenpapieren, welche die Krise verursachten, zu tun gehabt. Er schloss damals Firmendeals im Wert von fast 100 Milliarden Dollar ab. Nach Lehman gründete er die Firma NOAH Advisors. Sie beraten bei Firmenverkäufen und -übernahmen, organisieren Konferenzen, bei denen Firmen auf Investoren treffen. Für 2020 ist eine in Zürich geplant.

Die drei ehemaligen Investmentbanker bei Lehman Brothers setzen sich zum Gespräch mit Redaktor Harry Büsser (l.) auf das Sofa zu Hause bei Marco Rodzynek (Mitte). Justus Lampe (lins auf dem Sofa) und Jan Brandes (rechts).
Foto: PHILIPPE ROSSIER
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Die Firma beschäftigt rund zwei Dutzend Mitarbeiter. Büros brauchen sie nicht, Sitzungen finden in Rodzyneks Villa statt. 600 Quadratmeter Wohnfläche, Swimmingpool, Fitnesscenter, Weitsicht über den Vierwaldstättersee und auf den Bürgenstock. Heute ist Arbeitsmeeting, alle sitzen mit ihren ­Laptops um den Küchentisch versammelt. Und Rodzynek beginnt zu reden.

Sonntagsblick: Wie weit weg ist die Lehman-Zeit für Sie?
Marco Rodzynek:
Überhaupt nicht weit weg. Es war eine schöne Zeit.  Ich habe dort viel Kameradschaft und Menschlichkeit erlebt.

Gibt es konkrete Ereignisse, an denen Sie das festmachen?
Man arbeitete jede Nacht, oft bis 1 oder 2 Uhr. Wenn einer schneller fertig war, ging er nicht einfach nach Hause, sondern blieb im Büro, um den anderen zu helfen. Es war keine Ellenbogen­gesellschaft.

Echt?
Am Anfang nicht. Später wurden Opportunisten eingestellt, und die spezielle Lehman-Kultur ging verloren.

Wie das?
Es wurden teure Leute von anderen Banken abgeworben. Denen hat man Garantien gegeben, etwa zwei mal zwei oder drei mal drei.

Was ist zwei mal zwei?
Zwei mal zwei ist ein garantierter Bonus von je zwei Millionen pro Jahr für die nächsten zwei Jahre. 

Schönes Paket.
Die Erwartung war, dass die viel Geld für die Bank verdienen würden, meist haben sie aber wenig ­gebracht.

Warum?
Die funktionierten bei Lehman nicht. Die Leute haben auch wenig miteinander gesprochen. Am Ende gab es keine offenen Gespräche mehr. Die Leute haben ihren Job gemacht und Kopf runter.

Was war das Problem?
Solchen Leuten kann man nicht wider­sprechen, die wollen es nicht hören. Ihr müsst halt härter ar­beiten, war ein Argument, das oft von oben kam, wenn etwas nicht klappte. Eine stupide Armee. Das waren wir manchmal.

War das auch ein Grund für den Konkurs?
Sicher. Ich denke, auch das oberste Management wusste nicht, was in den Abteilungen für die Hypothekenpapiere los war. Auch Leute aus dem oberen Management hatten noch kurz vor dem Konkurs so sehr an die Firma geglaubt, dass sie ihr Privatvermögen in Aktien von ­Lehman Brothers investierten.

Das ging schief, die Firma machte ­Konkurs. Wie war das für Sie?
Es war das Beste, was mir passieren konnte.

Wie bitte?
Sonst wäre ich vielleicht noch ­lange bei der Bank geblieben. Ich sagte mir immer wieder, jetzt ­mache ich noch ein Jahr. Die haben den Mitarbeitern immer genug ­bezahlt, damit diese abhängig ­blieben.

Wie viel bezahlte Lehman denn?
Der Bonus ging bis vier Mal.

Vier Mal den Grundlohn?
Ja, vier Mal 150'000 bis 200'000. Die Chefs haben darüber entschieden, wie viel man bekam. Deswegen gab es auch eine Angstkultur. Wir hatten Angst vor denen.

Deswegen wollten Sie die Firma verlassen?
Wir mussten viele Präsentationen erstellen, Hunderte Seiten Dokumentationen für die Kunden. Aber die haben das gar nicht gelesen.

Wieso machte man denn die?
Überall, wo Kunden sehr hohe ­Beträge in Rechnung gestellt ­werden, wird viel Wert auf sehr schöne, ausführliche und äusserst genaue Dokumentationen und Präsenta­tionen gelegt. Das Motto ist: lieber korrekt falsch als imperfekt richtig.

Denken Sie, es gibt wieder eine Krise wie bei Lehman?
Es wird keine Krisen mehr geben wie in der Vergangenheit. Natürlich wird es immer Leute geben, die sagen, wir sind in einer Krise. Aber heute sind alle jederzeit miteinander in Kontakt, wir sind im Zeit­alter der perfekten Information.

Jetzt ist also alles anders?
Firmen können natürlich immer noch in Konkurs gehen. Uber wäre heute insolvent, wenn Softbank die Firma nicht gerettet hätte. Es kann auch immer noch vorkommen, dass unkritisch investiert wird, etwa in Internetfirmen, die mit Geld überschüttet werden.

Aber wenn die Zinsen steigen, gibt es Probleme.
Kein Politiker will die Zinsen erhöhen. Es sind so viele Informationen vorhanden, dass es selbst die schlechten Politiker kaum mehr falsch machen können. Es gibt wesentlichere Probleme in Europa.

Zum Beispiel?
Die wirtschaftliche Machtverschiebung. Kein grosser Internetkonzern ist in Europa. Apple, Amazon, Google, Facebook, Netflix sind alle in den USA beheimatet. Die benutzen ­Europa nur als Absatzmarkt. So verstummelt Europa als Wirtschaftsstandort. Auch Steuern bezahlen die Giganten kaum in ­Europa.

Was also tun?
Man sollte die Konzerne nach Absatz in einem Land besteuern.

Zurück zu Ihnen: Arbeiten Sie noch so viel wie bei Lehman.
Ich arbeite immer noch viel, aber weniger. Gleichzeitig verdiene ich mehr und habe vor allem mehr Spass.

Wieso?
Ich bin dichter an den Kunden dran, es gibt kein grosses bürokratisches Monster mehr zwischen mir und den Kunden. Auch das Machtgehabe ist weg und die schwach­sinnige Leerlaufarbeit.

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