Für Putin ist die Ukraine nur der Anfang
«Er ist wie Raupe Nimmersatt»

Russlands Präsident führt seit drei Monaten in der Ukraine Krieg. Wladimir Putin will in erster Linie den Donbass erobern. Aber er hat auch andere Ziele. Und genau deswegen muss der Westen aufpassen, sagt Politikwissenschaftler Marco Steenbergen.
Publiziert: 03.06.2022 um 11:14 Uhr
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Aktualisiert: 03.06.2022 um 19:30 Uhr
Chiara Schlenz

Der russische Blitzkrieg in der Ukraine ist gescheitert. Wo noch vor drei Monaten die Rede davon war, die Ukraine «innert Minuten» einzunehmen, macht sich heute eine Art Resignation breit. Noch immer hält die ukrainische Armee die Stellung, drängt die Russen zurück. Die Truppen von Wladimir Putin (69) müssen immer wieder herbe Verluste und Rückschläge verzeichnen, der russische Präsident scheint sich zunehmend in die Enge getrieben zu fühlen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron (44) bezeichnete Putin bereits früh im Krieg als «gedemütigt», auch der deutsche Politikwissenschaftler Thomas Jäger (61) nennt Putin eine «Ratte, die sich in die Enge gedrängt fühlt». Und ein Tier, das mit dem Rücken zur Wand steht, ist grundsätzlich gefährlich. Ist es also an der Zeit, dass der Westen seine Strategie im Ukraine-Krieg überdenkt?

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Putin legitimiert Krieg mit Opferrolle

Marco Steenbergen (59), Politikwissenschaftler an der Universität Zürich, ist sich der Gefahr eines gedemütigten Putins bewusst, wie er im Gespräch mit Blick erklärt. Doch für ihn ist klar: Diese Opferrolle spielt der Kreml-Despot nicht erst seit der Eskalation des Ukraine-Konflikts. «Putin hat sich schon immer als Opfer gesehen, das war schon vor dem Ukraine-Krieg so.»

Seit über drei Monaten wütet der russische Krieg in der Ukraine.
Foto: DUKAS
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Sehen konnte man das immer wieder. Auch während seiner Ansprache am 9. Mai betonte der russische Präsident mehrmals, dass der Westen praktisch vor einer Invasion in Russland gestanden habe, und dass der Krieg in der Ukraine ein «reiner Präventivschlag» gewesen sei. Die Opferrolle sei allerdings gut durchdacht. Steenbergen zu Blick: «Vielleicht fühlt er sich tatsächlich vom Westen bedroht, vielleicht hat er aber tatsächlich imperialistische Fantasien. Bei Putin kann man das nie so genau wissen.»

Der Kreml-Chef nutze auf jeden Fall den Westen und eine mögliche Bedrohung aus, um den Ukraine-Krieg zu rechtfertigen. «So legitimiert er diesen grausamen Krieg gegenüber seiner eigenen Bevölkerung, gegenüber der ganzen Welt», erklärt der Zürcher Experte. Zwar würde diese Taktik gegenüber seiner Bevölkerung noch gut funktionieren – für den Westen sei der Bogen laut Steenbergen allerdings langsam überspannt. «Putin hat das Verständnis des Westens verloren.»

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Der Kreml-Chef darf sein Ziel nicht erreichen

Ob eine baldige Niederlage Russlands in Sicht ist, könne Steenbergen nicht sagen. Allerdings wirke es nicht so, als wolle Putin sein Vorhaben in seinem Nachbarland aufgeben. Muss man ihm also, zum Wohl der Ukraine, eine helfende Hand reichen? Steenbergen fragt eher: «Will er überhaupt eine würdige Lösung?» Zudem befürchtet der Experte: «Putin könnte die Hand beissen, die ihn füttert.»

«Er droht immer wieder von neuem, deshalb müssen wir sicher aufpassen, jetzt schon über ein Hintertürchen für ihn zu sprechen», erklärt er weiter. Zudem habe der russische Präsident noch nicht gezeigt, dass er sich aus der Ukraine zurückziehen wolle. «Wir müssen da vorsichtig sein.»

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Zu Vorsicht mahnt Steenbergen nicht nur wegen Putins Hinterlistigkeit, sondern auch, weil sich der Kreml-Chef die Spaltung des Westens herbeisehnt. «Wir haben endlich einen Punkt erreicht, an dem der Westen vereint einer Meinung ist. Da muss man aufpassen: Wenn jetzt einige Putin helfen wollen, dann hat er sein Ziel der Spaltung erreicht.» Denn die vereinte westliche Front ist fragiler, als sie aussieht.

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Das Phänomen der russischen Raupe Nimmersatt

Aggressor Putin möchte aber nicht nur westliche Nationen gegeneinander aufhetzen. Wie er am 9. Mai nochmal deutlich machte, will er auch den Donbass, die Krim und eine Landbrücke zur Krim in russischer Hand sehen. Am Weltwirtschaftsforum in Davos forderte nun auch der ehemalige US-Aussenminister und Friedensnobelpreisträger Henry Kissinger (98), dass die Ukraine die Gebiete aufgeben solle. Sie sollte Verhandlungen aufnehmen, «bevor sie Umwälzungen und Spannungen verursacht, die nicht leicht zu überwinden sind».

Und der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (63) stellte unlängst die blauäugige Frage: «Darf Gewalt mit Gewalt bekämpft werden? Schafft man Frieden nur ohne Waffen?» Doch andere Fragen lässt der Kanzler weiter unbeantwortet. Ist er der Ansicht, dass die Ukraine mit allen militärischen Mitteln unterstützt werden muss, um den russischen Angriff zurückzuschlagen und einen Sieg zu erringen? Oder neigt er der Meinung zu, dass man möglichst bald zu einem Waffenstillstand kommen muss?

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Steenbergen ist sich sicher: Sollte es zu einem Waffenstillstand kommen, wird das für Putin nur eine Verschnaufpause sein, um den Krieg in einigen Jahren zu Ende zu führen. Sollte man ihm den Donbass und die Krim überlassen, käme dies einer Kapitulation des Westens gleich, und der Krieg würde schlussendlich auch auf Regionen wie Transnistrien ausgeweitet werden. «Putin wird sich nicht zufriedengeben und immer mehr wollen – wie die Raupe Nimmersatt.»

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«Ein Kampf, wer am längsten die Luft anhalten kann»

Der Westen befindet sich indessen nicht mehr nur in einem Konflikt mit Russland, sondern auch in einem Rennen gegen die Zeit. Zwar sehe er noch keinen Grund, die aktuelle Strategie – wirtschaftlicher Boykott und Waffenlieferungen – zu stoppen, doch: «Die Zeit ist gegen diesen westlichen Plan.»

Irgendwann könne man dazu gezwungen werden, einen anderen Weg einzuschlagen. «Putin zielt darauf, dass die westliche Bevölkerung irgendwann genug von den wirtschaftlichen Konsequenzen hat und sich gegen den Krieg auflehnt», so Steenbergen.

Sobald dies passiere, habe der russische Präsident die Spaltung des Westens erreicht. Für Steenbergen ist zu diesem Zeitpunkt klar: «Es ist ein Kampf darum, wer am längsten die Luft anhalten kann, und Putin ist die Puste noch längst nicht ausgegangen.»

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