«Zu befürchten, dass Schweizer Technik Zivilisten in der Ukraine tötet»
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Journalistin Marguerite Meyer:«Zu befürchten, dass Schweizer Technik Zivilisten in der Ukraine tötet»

Genfer Chip in russischen Raketen
Putin tötet mit Schweizer Technik

Britische Forscher fanden Schweizer Elektronik in Putins High-Tech-Raketen Kh-101. Mit ihnen bombardiert Russland seit Monaten Zivilisten und die Energieversorgung.
Publiziert: 18.12.2022 um 00:22 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2022 um 20:34 Uhr
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Fabian EberhardStv. Chefredaktor SonntagsBlick

Dunkelheit, Kälte, Angst: Russlands Machthaber Wladimir Putin terrorisiert die Ukraine mit gezielten Angriffen auf die Energieversorgung. In vielen Teilen des Landes ist die Bevölkerung ohne Strom und Heizung – bei Temperaturen weit unter null.

Möglich macht dies auch Schweizer Technik in Hightech-Raketen vom Typ Kh-101. Sie fliegen mit dem Chip einer Genfer Firma.

Ein Forscherteam der britischen Denkfabrik Royal United Services Institute (Rusi) hat Überreste der Raketen in der Ukraine untersucht – und fand Mikroprozessoren von STMicroelectronics. Der Grosskonzern mit Produktionsstätten in Italien, Frankreich und Singapur hat seinen Hauptsitz in Plan-les-Ouates im Kanton Genf.

Eine seiner wichtigsten Waffen ist die Rakete Kh-101, hier befestigt an russischen Flugzeugen, die die Geschosse abfeuern.
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Sieben Meter lang sind die Geschosse, die von einem Flugzeug abgefeuert werden. Sie tragen eine halbe Tonne Sprengstoff. Ihre Reichweite: bis zu 2800 Kilometer. Weil die Kh-101 besonders tief fliegen, haben Radarsysteme Mühe, sie zu entdecken. Das macht sie für die Russen zu einer der wichtigsten Waffen im Krieg gegen das Nachbarland.

Bund weiss von den Chips

Zuletzt kamen Kh-101 am 23. November in grossem Stil zum Einsatz, als Moskau Kiew in den Blackout bombte. Mehrere Menschen starben.

Weiss das Genfer Unternehmen, dass in den Marschflugkörpern des Kremls seine Mikrochips verbaut sind? Ein Sprecher schreibt auf Anfrage, man verfüge über ein «globales Programm» zur Einhaltung von Handelsvorschriften. «Wir haben entsprechend alle erforderlichen Massnahmen ergriffen, um die Sanktionspakete gegen Russland umzusetzen.»

Stellung nimmt auch der Bund. Antje Baertschi, Sprecherin beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), sagt: «Wir haben Kenntnis von Komponenten mit Bezug zur Schweiz, die in russischen Waffensystemen in der Ukraine aufgefunden worden sind.»

Zu einzelnen Herstellern will sich das Seco nicht äussern. Bisherige Abklärungen hätten ergeben, dass es sich bei den Bauteilen um industrielle Massengüter handle, die bis zum Kriegsbeginn Ende Februar keinen Handelsbeschränkungen unterlagen.

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Das änderte sich am 4. März, als Bern den Verkauf zahlreicher Elektronikteile nach Russland verbot. Die Massnahmen wurden mehrmals verschärft. Seco-Sprecherin Baertschi: «Die Güter wären zur Lieferung und zum Verkauf (...) aufgrund der Sanktionen nun verboten.»

Kommt hinzu: Da die Mikrochips der Genfer Firma wohl auch an Produktionsstandorten im Ausland hergestellt werden, gelten für sie zusätzlich auch Exportregeln anderer Länder.

Der Chip ist nicht das einzige Schweizer Bauteil in Putins Kriegsmaschinerie. Die Forscher von Rusi kommen in ihrem Report zum Schluss: «Die Schweiz ist der viertwichtigste Hersteller von Komponenten, die in russischen Waffensystemen gefunden wurden.» Neben der Genfer Firma STMicroelectronics erwähnen die Briten den Thalwiler Konzern U-blox, ein früheres Spin-off der ETH. Wie SonntagsBlick bereits im Juni publik machte, fliegen Moskaus Orlan-Drohnen mit einem GPS-Modul der Firma. U-blox argumentiert, es sei schwierig zu erkennen, «wo etwas am Schluss landet».

Die Elektronik aus dem Westen ist zentral für Putins Krieg. Moskau braucht sie, um neue Drohnen und Raketen herzustellen. Aufgrund der Lieferverbote fehlt es ihm aber zunehmend an Nachschub.

Russland braucht Halbleiter und Konnektoren

Die US-Zeitung «Politico» machte kürzlich eine vertrauliche Liste aus dem Verwaltungsapparat in Moskau publik, auf der dringend benötigte Bauteile stehen. Bei den gesuchten Komponenten handelt es sich vor allem um Halbleiter, Transformatoren, Stecker und Transistoren. Weil sich der Kreml in den vergangenen Jahren auf westliche Zulieferer verlassen habe, sei Russland nicht in der Lage, diese Teile selber herzustellen.

Auf der Liste tauchen auch Schweizer Produkte auf. Mit «Priorität zwei, wichtig» sucht Russland Konnektoren der Schaffhauser Firma TE Connectivity. Eigentlich sind sie Massenware – der Stückpreis liegt unter zehn Franken. Moskau benötigt sie aber dringend. TE Connectivity reagierte nicht auf Fragen.

US-Verteidigungsminister Lloyd Austin war nach den Angriffen am 23. November optimistisch, Russland werde «wegen der Handelsrestriktionen für Mikrochips und andere Dinge nicht in der Lage sein, schnell Präzisionsmunition zu reproduzieren».

Ein Bericht der englischen Forschungsgruppe Conflict Armament Research (CAR) vom 5. Dezember zweifelt Austins Aussage nun an. Die Waffenexperten untersuchten Trümmer russischer Kh-101-Raketen, die der Kreml vor einem Monat auf die Ukraine abfeuern liess, und stellten fest: Einer der Marschflugkörper wurde zwischen Juni und September 2022 hergestellt, ein anderer zwischen Oktober und November 2022. Ob Russland die westlichen Bauteile noch vorrätig hatte oder ob sie trotz Sanktionen nach Russland gelangten, ist nicht bekannt.

Klar ist: Putin setzt seinen Zermürbungskrieg fort. Am Freitag startete Russland eine neue Angriffswelle und legte erneut grosse Teile der ukrainischen Stromversorgung lahm. Die Folgen: Dunkelheit, Kälte, Angst. Und Tote.

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Hast du Hinweise zu brisanten Geschichten? Schreibe uns: recherche@ringier.ch

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