«Ich wünschte mir in Köln eine Abstimmung wie in der Schweiz»
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Muezzin-Rufe sorgen für Streit:«Ich möchte in Köln eine Abstimmung wie in der Schweiz»

Grünes Licht für Muezzins in Köln – Islam-Expertin Necla Kelek ist entrüstet – In der Schweiz auch möglich
«Ich wünschte mir in Köln eine Abstimmung wie in der Schweiz»

Die Stadt Köln erlaubt es Muezzins, zum Freitagsgebet auszurufen. Auch in der Schweiz hätten Muslime dazu wohl leichtes Spiel. Islam-Expertin Necla Kelek (63) erklärt im Interview, warum sie sich dagegen wehrt und warum sie die Minarett-Initiative so gut findet.
Publiziert: 15.10.2021 um 18:00 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2021 um 19:07 Uhr
Die Moschee in Köln-Ehrenfeld dient der Türkisch-Islamischen Union als Zentralmoschee.
Foto: keystone-sda.ch
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Interview: Guido Felder

In Köln herrscht Aufruhr. Die parteilose Oberbürgermeisterin Henriette Reker (64), die 2015 beim Attentat mit rechtsextremistischem Hintergrund schwer verletzt worden war, hat Muezzins grünes Licht erteilt. Jeden Freitag dürfen diese nun fünf Minuten lang über Lautsprecher zum Gebet aufrufen. Das Pilotprojekt, das 35 muslimische Gemeinden umfasst, ist auf zwei Jahre befristet.

Viele der 120'000 Muslime in Köln jubeln. «Ich verstehe das als Geste der Akzeptanz und der Toleranz», sagt Ahmet Erdogan, Vorsitzender einer Gemeinde. Gegner bezeichnen den Entscheid allerdings als Machtdemonstration der Muslime.

Auch in der Schweiz möglich

Die Muslime hätten wohl auch in der Schweiz grosse Chancen, eine Zulassung für den öffentlichen Gebetsruf zu erhalten. Andreas Stöckli (38), Professor für Staats- und Verfassungsrecht an der Universität Freiburg: «Eine solche Handlung ist geschützt durch die Religionsfreiheit.» Es könnte aber im Bereich des Lärmschutzes Einschränkungen geben, wie es sie etwa auch für Kirchenglocken gibt.

Auch wenn der Gebetsruf an Männer gerichtet ist und nur den Islam als einzig wahre Religion zulässt, muss sich der Staat in Bezug auf den Inhalt grosse Zurückhaltung auferlegen. Stöckli: «Der Staat ist verpflichtet, alle Religionen gleich zu behandeln.»

Trotz des Bau-Verbots von Minaretten könnten Muslime also auch in der Schweiz zum Gebet ausrufen. «Der Aufruf zum Gebet hat nichts mit einem Minarett zu tun», sagt Pascal Gemperli (43), Pressesprecher der Föderation Islamischer Dachorganisationen in der Schweiz. Warum tun sie's nicht? «Wir wollen keine Spannung erzeugen», sagt Gemperli. Der Gebetsaufruf finde trotzdem statt, jedoch einfach in der Moschee selber.

Islam-Expertin über Entscheid empört

Grosse Kritik am Kölner Entscheid übt die bekannte Islam-Expertin Necla Kelek (63)*. Im Interview mit Blick verrät sie warum.

Frau Kelek, was halten Sie davon, dass in Köln der Muezzin zum Gebet rufen kann?
Necla
Kelek: Ich verstehe den Entscheid nicht. Er geht in die falsche Richtung, nämlich in die Richtung von Moscheevereinen, von denen wir Säkulare seit Jahren Reformen erwarten.

Die parteilose Oberbürgermeisterin Reker spricht von einem «Zeichen des Respekts».
Das Zeichen ist einseitig. Sie hat sich nicht vergewissert, ob ihr Gegenüber, mit dem sie gewissermassen einen Vertrag abgeschlossen hat, ebenso respektvoll und tolerant gegenüber einer offenen Gesellschaft ist. Und ich behaupte, dass diese Moscheevereine verschlossene Gesellschaften sind und eine Parallelwelt aufbauen.

Das ruft der Muezzin

Der Gebetsruf in arabischer Sprache erinnert Muslime an die täglichen Pflichtgebete. In muslimischen Ländern steigt der Muezzin selber auf das Minarett, an vielen Orten aber wird der Ruf über Lautsprecher verbreitet.

Der Inhalt: «Allah ist der Allergrösste. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit ausser Allah gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist. Auf zum Gebet. Auf zum Erfolg. Gebet ist besser als Schlaf. Es gibt keine Gottheit ausser Allah.»

Der Gebetsruf in arabischer Sprache erinnert Muslime an die täglichen Pflichtgebete. In muslimischen Ländern steigt der Muezzin selber auf das Minarett, an vielen Orten aber wird der Ruf über Lautsprecher verbreitet.

Der Inhalt: «Allah ist der Allergrösste. Ich bezeuge, dass es keine Gottheit ausser Allah gibt. Ich bezeuge, dass Mohammed der Gesandte Allahs ist. Auf zum Gebet. Auf zum Erfolg. Gebet ist besser als Schlaf. Es gibt keine Gottheit ausser Allah.»

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Worauf stützen Sie Ihre Behauptung?
Ich beschäftige mich seit Jahren mit diesem Thema. Und ich stelle fest, dass sich die traditionelle Haltung gegenüber dem Welt- und Menschenbild nicht geändert hat.

Was kritisieren Sie denn am Ausruf zum Gebet?
Es wird «Allahu Akbar, Allah ist gross und Mohammed ist sein Prophet» gerufen. Das kann auch interpretiert werden, dass Allah der einzig wahre Gott und der Islam die einzig wahre Religion sei und man andere Religionen nicht anerkennt. Die gleichen Worte verwenden mittlerweile leider auch Terroristen wie etwa von Boko Haram, dem IS oder den Taliban nach Anschlägen. Zudem richtet sich die Botschaft nur an Männer. Ich kann es nicht verstehen, dass die Oberbürgermeisterin als Frau diese patriarchalische Welt faktisch unterstützt.

Wird denn in Deutschland der gleiche Text gerufen wie in streng muslimischen Ländern?
Ich kenne keine einzige Abwandlung von diesem Text.

Zum Muezzin sagen Sie Nein, aber es gibt ja auch das Glockengeläut der Christen. Wo ist denn hier der Unterschied?
Glocken rufen spielerisch und ohne Worte zum Gebet auf und sind eine Zeitansage. Es gäbe sicher auch Diskussionen, wenn ein Priester vom Kirchturm aus mit einem «Vater Unser» zum Gottesdienst rufen würde.

Wie sollen denn die Muslime zum Gebet rufen?
Ich würde die Moscheevereine, Verbände und Gemeinden bitten, dass sie von der ihnen gebotenen Möglichkeit absehen und von sich aus auf den Gebetsruf verzichten. Keine andere Religion in dieser vielfältigen Stadt sieht traditionell ein Ruf zum Gebet vor. Warum also nur die Sunniten und Schiiten, es ist auch unhöflich den anderen gegenüber.

Die Kölner Zentralmoschee war 2018 vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan persönlich eröffnet worden. Wie gross ist sein Einfluss?
Die Kölner Zentralmoschee ist die religiöse Botschaft der türkischen Regierung in Deutschland. Sie wird mit Geldern aus der Türkei finanziert, die Imame sind türkische Beamte, die Freitagspredigten werden in Ankara von der türkischen Religionsbehörde Diyanet verfasst.

2009 stand die Schweiz weltweit in der Kritik, weil das Stimmvolk den Bau von Minaretten verbot. War das in Ihren Augen ein richtiger Entscheid?
Dass überhaupt die Gesellschaft über etwas Neues gefragt wird und sich damit auseinandersetzt, wer hier was ausruft – diese Form der Bevölkerungsbefragung wünschte ich mir auch hier in Deutschland. Die Oberbürgermeisterin hätte das Thema in breiten Kreisen der Stadt besprechen und eine Abstimmung durchführen müssen. Es braucht eine Debatte der Muslime untereinander, wie sie ihre Religion mit der Demokratie verträglich machen können.

* Die in der Türkei geborene Soziologin, Frauenrechtlerin und Publizistin Necla Kelek (63) gilt als eine der prominentesten muslimischen Stimmen Deutschlands. Als Menschenrechtlerin kritisiert sie vor allem das autoritäre Frauenbild im traditionellen Islam. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, so unter anderem mit dem Geschwister-Scholl-Preis und dem Freiheitspreis der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

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