Lukas Bärfuss fordert
Erheben wir die Stimme für die Menschen im Iran!

Es findet eine Revolution statt – und die westlichen Demokratien schauen weg, schreibt Lukas Bärfuss. Dabei liegt eine erfolgreiche Revolution im Iran im geopolitischen Interesse aller demokratischen Staaten.
Publiziert: 15.10.2022 um 11:26 Uhr
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Aktualisiert: 15.10.2022 um 13:24 Uhr
Lukas Bärfuss

In diesem Augenblick, in diesen Stunden, Tagen, findet im Iran eine Revolution statt.

Menschen aller Schichten, Berufe, aus allen Teilen des Landes, Frauen, Männer, Schulkinder, die Arbeiterschaft der Ölindustrie, die Bevölkerung aus den kurdischen Gebieten, die Belutschen, jene, die Turkmenisch oder Farsi sprechen, sie alle gehen auf die Strasse und kämpfen für das Ende der Diktatur, für ihre Freiheit.

Angeführt wird dieser Protest von den Frauen. Sie sind Objekt und Subjekt dieser Revolution. Sie haben ihre Unterdrückung in all den Jahren nicht hingenommen. Sie haben sich gegen allen Widerstand gebildet und organisiert. Der Erfolg ist nicht ausgeblieben. Iranische Frauen wie Marjane Satrapi prägen die Kultur weltweit. Iranische Frauen leisten bedeutende Beiträge in der Wissenschaft. Maryam Mirzakhani erhielt als erste Frau überhaupt die Fields-Medaille, die wichtigste Auszeichnung auf dem Gebiet der Mathematik.

Eine junge Frau demonstriert am 1. Oktober gegen das iranische Regime – ohne Kopftuch.
Foto: keystone-sda.ch

Die Frauen reissen sich den Hijab vom Kopf und schneiden sich aus Protest öffentlich die Haare ab. Sie wissen genau, was das bedeutet. Der Schleier, wie es die Journalistin und Bürgerrechtlerin Masih Alinejad formuliert, ist für das Regime in Teheran zur Berliner Mauer geworden. Fällt der Schleier, fällt die Macht des Diktators. Die Macht der Bilder ist unhintergehbar. Alle verstehen die Nachricht, und alle verstehen sie unmittelbar, auf der ganzen Welt. Frauenrechte sind Menschenrechte.

Eine Revolution, keine Proteste. Die Menschen im Iran haben keine Forderung an das Regime. Sie verlangen keine Reformen, sie verlangen den Tod des Diktators. Wenn es um die Freiheitsrechte geht, gibt es keinen Verhandlungsspielraum.

Kein Regime ist stärker als der Wille der Menschen

Die Menschen im Iran kämpfen, und sie tun es unter Lebensgefahr. Zwar unterstützt nur eine kleine Minderheit das totalitäre, misogyne, machistische Regime, aber diese Minderheit ist fanatisch, bis an die Zähne bewaffnet und bereit, für die Mullahs zu töten und zu sterben. Es ist der Augenblick, dem jede Diktatur entgegensieht. Keine Macht der Welt kann auf Dauer den Menschen die Grundrechte entziehen. Jede Ideologie, so hochgerüstet und totalitär sie auch sein mag, wird eines Tages unter dem Druck der Strasse zusammenbrechen. Keine Diktatur ist stärker als der Wille der Menschen, über ihr eigenes Leben zu bestimmen. Dies hat die Geschichte wieder und wieder gezeigt. Jede totalitäre Herrschaft steht auf tönernen Füssen, in Russland, in China, im Iran. Die Mehrheit wird über kurz oder lang siegen.

Eine Frau demonstriert gegen den Tod von Masha Amini – die nach der Verhaftung durch die Sittenpolizei in der Haft verstarb.
Foto: Getty Images

In diesem Augenblick findet im Iran eine Revolution statt, aber die Regierungen Europas scheinen sich davor zu fürchten. Das Schweigen der EU und der Uno ist ohrenbetäubend. Es fällt schwer, auch nur einen vernünftigen Grund dafür zu finden. Die Furcht vor einem politischen Vakuum? Sie ist unbegründet. Die Revolution im Iran bringt die Menschen aller politischen Richtungen dieses multiethnischen Staates zusammen. Die Einheit im Widerstand gegen die Islamisten ist gross.

Ist es die Furcht vor einem neuen, weiteren Unruheherd? Ein weiterer offener Konflikt in der Region? Wäre deshalb Vorsicht und diplomatische Zurückhaltung angebracht?

Ayatollah Khomeini bei seiner Rückkehr in den Iran am 1. Februar 1979.
Foto: AP

Nein, denn es ist genau umgekehrt: An der Wurzel der Malaise im Nahen Osten sitzt die islamische Konterrevolution von 1979. Es sind die Mullahs, die Terror und Chaos in der Region fördern. Es sind die Mullahs, die von der Instabilität profitieren – im Libanon, in Syrien. Es sind die Mullahs, nicht das iranische Volk, die mit dem Atomprogramm die internationalen Abkommen verletzen. Die Position der iranischen Menschen ist klar. Umfragen zeigen, dass sich nur eine Minderheit der Bevölkerung zum Schiismus bekennt, mehr noch, eine Mehrheit bezeichnet sich nicht einmal als islamisch. Bereits die konstitutionelle Revolution von 1905 hatte eine liberale Verfassung erkämpft, und es waren erst Khomeini und seine Henker, die entgegen der Mehrheit der Bevölkerung ein Regime der Unterdrückung und des Terrors etablierten. Der Widerstand gegen die Mullahs hat nie aufgehört. Die Menschen im Iran haben sich zu keinem Zeitpunkt mit ihrer faschistischen, totalitären und frauenfeindlichen Politik abgefunden.

Eine erfolgreiche Revolution ist in unserem Interesse

Man hat in den letzten Monaten, seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine, oft von der neuen weltpolitischen Achse gesprochen, die sich zwischen dem Kreml und den Mullahs etabliert habe. Moskau hat von Teheran gelernt, wie man die internationalen Sanktionen umgeht, wie man die eigene korrupte Elite schützt und nur das eigene Volk leiden lässt. Der kriminelle Know-how-Transfer funktioniert. Eine erfolgreiche Revolution im Iran liegt auch im geopolitischen Interesse der demokratischen Staaten.

Zusammenstösse zwischen Demonstranten und der Polizei in Teheran.
Foto: DUKAS

Die Menschen im Iran stehen alleine, und ihre Forderung ist eindeutig: Jedes Zeichen der Solidarität hilft dieser Revolution. Jede, auch das kleinste Zeichen der Unterstützung ist notwendig. Die Strategie der Mullahs ist klar. Sie wollen diese Revolution der Freiheit totprügeln und totschweigen. Deshalb ist es entscheidend, dass die Nachricht von den Strassen in Teheran, Isfahan, Shiraz auf allen Kanälen verbreitet wird. Wer jetzt nicht das Wort ergreift, unterstützt die Mullahs.

Die Wiederwahl von Mahmoud Ahmadinejad führte 2009 zu Massenprotesten, die niedergeschlagen wurden.
Foto: Getty Images

Die offizielle Schweiz schweigt. Auf den Internet-Seiten des Bundesrats findet sich nichts, kein Statement, keine Ansprache, nicht das kleinste Zeichen der Unterstützung. Hat die Regierung in Bern den letzten Mut verloren? Hat sie sich im Opportunismus eingerichtet? Wie oft war die Politik der Schweiz in den letzten Jahren einem höheren Interesse als der Besitzstandswahrung verpflichtet? Wann antwortet die Regierung auf die parlamentarische Interpellation von Ende September? Hat sie keine Antwort auf die einfachen Fragen, die von den Parlamentarierinnen gestellt werden? Was hat der Bundesrat im UN-Menschenrechtsrat unternommen? Warum verurteilt er die Mullahs nicht öffentlich? Was tut sie konkret für die an Leib und Leben verfolgten Frauen? Stellt die Botschaft in Teheran genügend humanitäre Visa aus? Gibt es ein Stipendienprogramm für verfolgte Iranerinnen?

Wo ist die Schweiz?

Die Schweiz hätte eine gewichtige Stimme. Sie vertritt mit dem Schutzmachtmandat seit 1980 die Interessen der USA im Iran. Sie ist der Depositarstaat der Genfer Abkommen. Sie setzt sich ein für die Durchsetzung des humanitären Völkerrechts.

Die Schweizer Regierung sollte sich an den Menschen im Iran ein Beispiel nehmen und sich der grössten politischen Tugend erinnern. Es ist der Mut. Es ist Zeit, die Stimme zu erheben. Es ist Zeit, politische Allianzen zu bilden. Die Schweiz kann vorangehen und zum Beispiel gemeinsam mit Österreich, Sitz der OPEC und der Internationalen Atomenergiebehörde, eine europäische Initiative anführen. Für die Menschen im Iran. Für die Demokratie und die Menschenrechte. Für die Freiheit.

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