Lukas Bärfuss über die Neutralität der Schweiz
Das hässliche Gesicht der Welt ist nicht neutral

Die neutrale Haltung erlaubt es der Schweiz, gewisse Probleme nicht zur Kenntnis zu nehmen, schreibt Lukas Bärfuss. In seinem Essay zeigt der Schriftsteller auf, wie die Neutralität mehr Schaden als Einigung bringt.
Publiziert: 17.09.2022 um 16:42 Uhr
Lukas Bärfuss

Warum um Himmels willen sollten wir uns über eine so freudlose Sache wie die Neutralität unterhalten? Ein vernünftiges Ergebnis einer solchen Diskussion ist unwahrscheinlich und absehbar nur der Streit. Wie hat ein Historiker in diesem Zusammenhang so treffend bemerkt: Unter Neutralität versteht jeder etwas anderes.

Was war die Neutralität in meiner Jugend? Das war die Angst vor den Sowjets und die Möglichkeit, mit den Rassisten im Südafrika der Apartheid glänzende Geschäfte zu machen. Was war sie in der Kindheit meiner Mutter? Ein zentraler Begriff der geistigen Landesverteidigung und nebenbei eine Möglichkeit, mit den Nazis ordentlich Geschäfte zu machen. Was war sie zu Zeiten, als die erste Bundesverfassung entstand? Ein erfolgreiches Mittel, um sich aus den kriegerischen Wirren der Imperien herauszuhalten. Und wozu dient sie heute?

«Die Neutralität und der Umstand, dass die Schweiz keine koloniale Vergangenheit hat, keinem Machtblock angehört und keine versteckte Agenda verfolgt, erleichtern ihr den Kontakt zu den unterschiedlichsten Gesprächspartnern und ermöglichen ihr, eine konstruktive Rolle zu spielen.»

So schreibt der Bundesrat fast treuherzig in einer Broschüre aus dem März. Keine koloniale Vergangenheit? Geschichtliche Fakten spielen bei dieser Neutralitätspolitik keine Rolle. Nein, diese Neutralität verströmt den frischen Duft der ewigen Unschuld, den Freispruch, die Unsichtbarkeit, die Diskretion. Nicht nur fürs Geschäft, auch fürs Leben ist das eine angenehme Haltung. Man ist zu nichts gezwungen, man kümmert sich um nichts, man bleibt unbeteiligt, immun gegen die Unbill der Zeit, gegen das Leid, die Ungerechtigkeiten, die Widersprüche.

Wer neutral ist, braucht über gewisse Probleme nicht einmal nachzudenken. Was immer auch Schwierigkeiten macht – wir haben nichts zu tun damit. Die Neutralität gibt uns das Recht, gewisse Dinge nicht zur Kenntnis zu nehmen.

Der Dichter Perhat Tursum kommt aus einer Stadt in der Provinz Xinjiang, wo die Kommunistische Partei Chinas Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt.
Foto: ZvG

Zum Beispiel den Fall von Perhat Tursum, ein Dichter aus Atush, einer Stadt in der Provinz Xinjiang, wo die Kommunistische Partei Chinas Hunderttausende in Lager steckt, sie einschüchtert, zum Verschwinden bringt, Familien trennt und mutmasslich Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Das steht in einem Bericht der Uno-Hochkommissarin für Menschenrechte, veröffentlicht vor zwei Wochen. Dank der Neutralität müssen wir diesen Bericht nicht zur Kenntnis nehmen. Wir dürfen natürlich, aber es ist freiwillig und wird niemals eine politische Folge haben.

Eigentlich will China die Standorte von Lagern zur Internierung der Uiguren verstecken. Aber das gelingt ihnen nicht, wie Aufnahmen von Google Earth zeigen.

Bereits das Gespräch über Neutralität entlastet. Es erlaubt uns, anderes zu verschweigen. Die Widersprüche sind so arg geworden, da hilft es, einen Begriff zu haben, hinter dem man sich in Deckung bringen kann.

Ohne Neutralität müsste man über Zhu Hailun, Wang Junzheng und Wang Mingshan und ihre Taten reden. Alle drei sind Mitglieder der Kommunistischen Partei Chinas und in der Provinz Xinjiang in unterschiedlichen Positionen verantwortlich für die Unterdrückung der Uiguren. Deshalb stehen sie auf der Sanktionsliste der Europäischen Union und der USA, die wir dank der Neutralität ebenfalls ignorieren dürfen. Wären wir nicht neutral, dann müssten wir uns mit ihren mutmasslichen Verbrechen beschäftigen, also die Akten studieren, die Sachlage erörtern, und mutmasslich würde man im Angesicht der politischen Niedertracht, des Leides und der Verzweiflung ihrer Opfer nicht unbeteiligt bleiben. Das hässliche Gesicht der Welt ist nicht neutral.

Statt an die aktuellen Berichte aus Xinjiang hält man sich lieber an die Bindschedler-Doktrin. Dieses vierseitige Dokument aus dem Jahre 1954 hat zwar fast siebzig Jahre auf dem Buckel, stammt aus einer anderen Zeit, aus dem Kalten Krieg, aber wenn es um Neutralitätspolitik geht, bestimmten damals wie heute seine Grundsätze die Debatte. Da steht entwaffnend ehrlich und weiterhin so hilfreich: «Im Übrigen besteht keine wirtschaftliche Neutralität. Der neutrale Staat hat im Gegenteil ein Recht auf Handelsverkehr mit den Kriegführenden. Die Schweiz hat diesen Standpunkt immer vertreten.»

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Dementsprechend sind die schweizerischen Exporte in das kriegführende Russland in den ersten beiden Quartalen des laufenden Jahres nicht etwa eingebrochen, nein, sie sind gestiegen. Im Juni waren sie um 83 Prozent höher als im Januar. Das ist gelebte Bindschedler-Doktrin!

Dieser Erfolg kommt nicht über Nacht. Das Terrain muss bestellt werden, bevor man ernten kann. Und gerade wenn der Acker verseucht ist, schützt Neutralität vor der Vergiftung. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur der Schweiz haben mit den Machthabern in Peking auf allen Stellen und in allen Formen kooperiert und tun es immer noch.

Neutralität, das ist das Freihandelsabkommen mit der Kommunistischen Partei Chinas. Es zwingt den hiesigen Unternehmen den chinesischen Markt auf. Wer im globalen Wettbewerb bestehen will, der muss seit 2014 mit der Kommunistischen Partei Chinas kooperieren. Wie die Unternehmer mit den moralischen Bauchschmerzen zurechtkommen? Das ist ihr Problem. Das Gefühl dabei? Angst. So sieht und hört man in den Abendnachrichten eingeschüchterte Maschinenindustrielle, denen die Zähne klappern alleine beim Gedanken an die Retorsionsmassnahmen der Kommunistischen Partei Chinas, sollte die Eidgenossenschaft die Tollkühnheit besitzen, die internationalen Sanktionen zu übernehmen. Man lege sich hier mit einem Koloss an, mit einer Weltmacht.

Woher die Hasenfüssigkeit? Wie viele verwechselt der Unternehmer die Kommunistische Partei Chinas mit dem chinesischen Volk. Die Kraft, den Fleiss und den Willen der anderthalb Milliarden Chinesinnen und Chinesen kann man angstfrei bewundern, daran ist nichts zu deuteln. Die Macht der Kommunistischen Partei aber steht auf tönernen Füssen. Wie jede Diktatur kennt sie nur ein Mittel, die Gewalt. Sie frisst sich selbst von innen her auf: Die grösste Angst vor dem chinesischen Volk hat die Kommunistische Partei selbst.

Man hört oft: Mit jeder Kooperation hat man die Chance, das Gute zu bewirken. Im Dialog finden wir die Lösungen. Wann aber hat die Kommunistische Partei Chinas jemals den Dialog gepflegt? In Hongkong? In Taipeh? In Xinjiang? Ist es nicht gerade das Merkmal der Kommunistischen Partei Chinas, wie die einer jeden Diktatur, dass sie den Dialog verachtet, die Gewalt aber liebt? Das Wesen eines totalitären Staates ist eben das: seine Totalität. Er duldet keine Freiheit, nirgendwo. Er wird immer versuchen, seine Methoden der Unterdrückung auszudehnen, er wird an keiner Grenze stoppen. Eine Lektion, die erst am 24. Februar am Beispiel Russland wieder aufgefrischt wurde.

Da wünscht man sich ein bisschen weniger Bindschedler und ein wenig mehr Hugo Grotius, der da bereits im siebzehnten Jahrhundert bezüglich der Wirtschaft meinte, der neutrale Staat dürfe nichts tun, was den Verfechter der ungerechten Sache stärke.

Ein altes Dokument eines Werks von Hugo Grotius.

Die Machtexzesse der Kommunistischen Partei Chinas werden extremer mit jedem Jahr. Warum sollten wir ihnen bei der Aufrüstung helfen? Wer mit der Kommunistischen Partei Chinas einen wirtschaftlichen, politischen oder kulturellen Vertrag abschliesst, der macht sich von der Kommunistischen Partei Chinas abhängig. Wer tut so etwas freiwillig? Wer sucht den Umgang mit diesen Faschisten, die sich nicht scheuen, Lager zu bauen, ihre eigenen Leute bis zur Vernichtung zu verfolgen? Hier wird die Neutralität zur Gefahr für unsere Sicherheit.

Ein totalitäres System wie jenes der Kommunistischen Partei Chinas braucht die Angst, die Unsicherheit, die Einschüchterung. Hierzulande heisst diese Angst Arbeitsplatzverlust, Wettbewerbsfähigkeit. Diese Angst ist eine Folge der Verstrickung mit den Institutionen der Gewalt und der Menschenverachtung. Der schweizerische Exporthandel nach China lag in den ersten beiden Quartalen des laufenden Jahres auf der Höhe Sloweniens, Frankreichs oder Spaniens. Man sollte sich besser vor dem fehlenden Rahmenabkommen mit der EU fürchten. Die Neutralität ist erneut der Busch, hinter dem sich die Angsthasen verstecken.

Wem die Neutralität schnuppe ist, wer seine Zeit lieber der Wirklichkeit widmet, also den Menschen und der Welt, in der sie leben, dem sei eine literarische Neuerscheinung empfohlen. Die Übersetzung des Romans heisst «The Backstreets», erschienen bei Columbia University Press. Es ist eine Geschichte aus Xinjiang, ihr Autor, ein grosser Dichter der uigurischen Sprache, ist der erwähnte Perhat Tursum. Er verschwand im Jahre 2017. Wenn er noch am Leben ist, sitzt er in einem der Lager in Xinjiang, in denen schon Hunderttausende verschwunden sind. Wer würde es wagen, mit ihm über die Neutralität zu reden, über die Angst, wer wagt es, sein Buch zu lesen?

Der Roman «The Backstreets» von Perhat Tursum. Der Dichter verschwand vor fünf Jahren.
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