«Russen werden wohl eine Winterpause einlegen, um Zeit zu gewinnen»
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Militär-Experte Georg Häsler:«Russen legen Winterpause ein, um Zeit zu gewinnen»

Migrationsexperte Kilian Kleinschmidt warnt
Mit dem Winter droht eine neue Flüchtlingswelle

In wenigen Tagen beginnt in der Ukraine die dunkle Jahreszeit – mit Temperaturstürzen bis auf minus 25 Grad. Millionen sind in bombardierten Häusern eisiger Kälte ausgesetzt: Ohne Strom, ohne Wasser, ohne Fenster.
Publiziert: 20.11.2022 um 03:15 Uhr
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Aktualisiert: 20.11.2022 um 14:15 Uhr
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Freude betäubt die Not. Auf Strassen und Plätzen jubelt die Bevölkerung. Acht Monate lang war die südukrainische Metropole Cherson in den Händen der Besatzer. Jetzt haben sich die russischen Streitkräfte aufs andere Ufer des Dnjepr zurückgezogen. Die Provinzhauptstadt ist wieder ukrainisch. Soldaten werden umarmt, Journalisten mit gelb-blauen Fähnchen begrüsst. Als dann auch noch Präsident Wolodimir Selenski (44) am Montag überraschenderweise auftaucht und die Nationalhymne singt, fliessen sogar Tränen.

Ein junger Mann bringt die Stimmung auf den Punkt. «Vielen Dank, ihr geliebten Freunde. Ich habe immer an unsere Befreiung geglaubt», sagt er zu SonntagsBlick. Doch dann erzählt er, was die Befreiung kostet: «Wir können unsere Handys nicht aufladen, nicht mit unseren Familien telefonieren. Wir haben keinen Storm, kein Wasser. Aber wir werden überleben!»

Temperaturen bis minus 25 Grad

Der Winter steht vor der Tür. Kälteeinbrüche von bis zu 25 Grad minus sind keine Seltenheit. In Kiew fiel bereits der erste Schnee. Und nicht nur in den befreiten Gebieten des vom Krieg geschundenen Landes zeichnet sich eine humanitäre Katastrophe ab. Seit Beginn der Invasion wurden mehr als 140'000 Wohnungen zerstört. Die Vereinten Nationen schätzen, dass derzeit weit über neun Millionen Menschen auf Hilfe angewiesen sind.

Seit Tagen strömen die Menschen von Cherson auf die Strassen und feiern die Befreiung.
Foto: IMAGO/ZUMA Wire
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Knapp sieben Millionen Menschen sind in der Ukraine auf der Flucht. Über eine Million harrt in schlecht beheizten öffentlichen Gebäuden wie Schulen oder Turnhallen aus. Der Raketenhagel von Putins Armee zerstörte rund 40 Prozent der Anlagen zur Stromversorgung. Am Dienstag kam es zum heftigsten Beschuss seit der russischen Invasion. Zeitweise waren zehn Millionen Menschen ohne Elektrizität. Besonders betroffen: die Regionen Odessa, Kiew, Winnyzja und Sumy.

Politik und Hilfswerke kündigen dieser Tage Winterhilfen an. In seiner Sitzung vom 2. November beschloss der Bundesrat einen Aktionsplan von 100 Millionen Franken. In erster Linie soll damit die Energie-Infrastruktur in der Ukraine wieder aufgebaut werden. Die EU-Kommission schlägt ein Darlehen in Höhe von 18 Milliarden Euro vor, um Reparaturen an zerstörten Gebäude vorzunehmen sowie Energie- und Wasserversorgung zu sichern. Das G7-Treffen der Aussenminister in Münster versprach Anfang November ein Winterhilfspaket. Generatoren, Heizungen, Wohncontainer, Zelte, Betten und Decken sollen den Ukrainern über den strengen Winter helfen.

Das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) koordiniert einen regionalen Plan zur Unterstützung von Flüchtlingen, an dem Partner wie UNDP, WHO, Save the Children, HelpAge International, Intersos, Project Hope, UNFPA, NRC, Unicef, WFP und IOM beteiligt sind. In der Schweiz widmen sich Organisationen wie die Glückskette, das Schweizerische Rote Kreuz, Helvetas, Caritas und Medair der finanziellen, aber auch der praktischen Unterstützung, der Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, aber auch mit Pellet-Öfen.

Dringende Massnahmen verschlafen

In den Augen von Kilian Kleinschmidt (60) kommt diese Hilfe vielfach zu spät. Sechsmal war der deutsche Unternehmer und ehemalige Leiter mehrerer UNHCR-Flüchtlingslager als Berater in der angegriffenen Ukraine. «Es wurden kaum neue Wohnungen gebaut, kaum Containerdörfer errichtet. Es fehlen Fenster und Baumaterial. Vom Ausland kam viel zu wenig. Grosse Institutionen haben diese dringenden Massnahmen schlicht verschlafen.» Nun aber werde es schwierig, noch etwas auf die Beine zu stellen.

«Es braucht eine Kombination an Hilfsmassnahmen: Notunterkünfte, Baumaterialien, Reparaturen. Weltweit hätten die Hersteller zum Beispiel 10'000 Wohncontainer produzieren können. Das hätte sechs Monate gedauert. Man hätte mit all dem im April oder Mai beginnen müssen. Wir wussten ja, was auf die Ukraine zukommt», so Kleinschmidt zu SonntagsBlick. Allein mit den in Deutschland gespendeten 862 Millionen Euro wäre es möglich gewesen, neben Wohncontainern 500'000 Quadratmeter Wohnungen zu bauen und 100'000 Menschen unterzubringen. Der Flüchtlingsexperte warnt: «Viele Ukrainer werden das Land verlassen, um den Winter im europäischen Ausland zu verbringen.»

Auch Polen rechnet mit einer neuen Flüchtlingswelle aus dem Nachbarstaat. 1,3 Millionen Vertriebene wurden bereits aufgenommen. Und nun habe man mehr als 100'000 neue Plätze in Sammelunterkünften vorbereitet, sagte die polnische Integrationsministerin Agnieskza Scigaj (47) dem Sender Radio Plus. Die ukrainische Regierung appelliert unterdessen an die bisher ins Ausland Geflohenen, vorerst nicht wieder heimzukehren.

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