Säckeweise Gemüse, Beeren-Wodka und russische Sardellen
Warum die Ukrainer einen immer füttern wollen

Die Ukrainer legen Wert auf gutes Essen und Gastfreundschaft – selbst in den Dörfern an der Front. Für ihre Besucher öffnen sie Vorratskammern und Wodka-Flaschen. Eine ungeplante kulinarische Reise durchs Kriegsgebiet.
Publiziert: 21.09.2024 um 01:07 Uhr
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Aktualisiert: 21.09.2024 um 13:51 Uhr

Kurz zusammengefasst

  • Essen hat hohen Stellenwert in der ukrainischen Gesellschaft
  • Neue Wassermelonen-Sorte in ukrainischem Dorf gezüchtet
  • Vor 80 Jahren verhungerten 3 bis 7 Millionen Ukrainer
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
Ljubow Hryhoriwna und Oleksandr Stepanowitsch leben in Junakiwka, einem Dorf in der ukrainischen Region Sumy.
Foto: Helena Schmid
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Helena SchmidReporterin

Oleksandr Stepanowitsch (73) hat eine neue Wassermelonen-Sorte gezüchtet. Die Basketball-grossen Früchte wachsen zwischen Raketensplittern und Schrapnell in seinem Garten im ukrainischen Dorf Junakiwka, knapp neun Kilometer vor der russischen Grenze. «Diesen Sommer konnte ich die erste Generation ernten», sagt er und schneidet die Melone in Stücke. «Iss!»

Probier mal, nimm, iss – wenn es um Lebensmittel geht, dulden die Ukrainer keine Widerrede. Sie füttern einen mit allem, was sie haben. Und geben der Kriegsreportage einen kulinarischen Beigeschmack.

Ukrainischer Schokoladenriegel im Flugzeug

Es beginnt bereits im Flugzeug von Zürich nach Krakau (Polen). Ein ukrainisches Ehepaar ist auf der Heimreise, sie haben ihre Kinder und Enkel besucht, die in der Schweiz leben. Die Grossmutter scrollt durchs Fotoalbum auf ihrem Handy, zeigt stolz ihre ganze Verwandtschaft. Nach der Landung greift sie in ihre Tasche, zieht einen Schokoladenriegel hervor. «Nimm!»

Essen haltbar machen – darauf legen die Menschen in der Ukraine grossen Wert. Sie lagern Kartoffeln und Gemüse, legen Kraut und Früchte in Einmachgläsern ein. Während der russischen Invasion haben die Vorräte so manchen Familien das Leben gerettet. In Mariupol etwa, einer Stadt im Südosten des Landes, die während mehrerer Monate von der russischen Armee belagert wurde.

Kiloweise Gemüse aus Garten an der Front

In Junakiwka, dem Dorf an der russischen Grenze, fuhren in den ersten Kriegstagen Panzer vor. «Ich dachte, es seien unsere», erzählt Oleksandr Stepanowitsch. «Ich ging raus und winkte ihnen. Plötzlich zielte einer auf mich. Da erkannte ich, dass es russische Panzer waren.»

Viele ihrer Nachbarn sind nach dem Einmarsch der Russen vor zweieinhalb Jahren geflüchtet. Oleksandr und seine Frau Ljubow Hryhoriwna (65) blieben und bewirtschaften weiterhin ihren Garten. Neben Wassermelonen pflanzen sie Tomaten, Kürbisse, Kohl, Randen, Rüebli, Peperoni, Himbeeren und mehr an. Mittlerweile ist Junakiwka wieder unter ukrainischer Kontrolle.

Ljubow Hryhoriwna kommt mit drei randvollen Säcken aus dem Haus. Gemüse, um Borschtsch zu kochen, eines der beliebtesten Gerichte in der Ukraine. Dazu kiloweise Tomaten und Peperoni, Pflaumen und Beeren. Oleksandr öffnet eine Flasche selbstgemachten Beeren-Wodka: «Probier mal!»

Sardellen-Büchse an russischem Grenzposten

In den frühen 30er-Jahren verhungerten in der Ukraine schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen. Die damalige sowjetische Wirtschaftspolitik stürzte das Land in eine Hungersnot. Man spricht vom «Holodomor», ukrainisch für «Mord durch Hunger». Das Grauen der damaligen Zeit hat sich ins Bewusstsein der Menschen eingebrannt. Essen verschenken – ein Brauch, der die ukrainische Gesellschaft zusammenhält.

Östlich von Junakiwka liegt die russische Region Kursk. Anfang August hat die ukrainische Armee die Grenze gestürmt, erstmals Gebiete auf russischem Boden besetzt. Blick fährt mit einem Presseoffizier ins ukrainisch kontrollierte Gebiet in Kursk.

Die Grenzposten liegen in Trümmern, die russischen Soldaten wurden von der Offensive völlig überrumpelt. Überall liegen Schuhe, Munition und Handbücher herum. Der Presseoffizier hebt eine Dose vom Boden auf: «Sardellen und Gemüse», steht da auf Russisch. Der Presseoffizier sagt schmunzelnd: «Iss!»

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