Tagebuch aus Jerusalem
«Meine Tochter denkt, das sei alles nur ein Spiel»

Die Schweizer Journalistin Cécile Cohen (38) lebt mit ihrer Familie in Israel. Für SonntagsBlick berichtet sie über ihre dramatische Woche im Kriegsgebiet.
Publiziert: 15.10.2023 um 00:39 Uhr
Cécile Cohen

Samstag, 7. Oktober (8.15 Uhr)

Sirenen erklingen und, ich bin hellwach. Ich weiss: Jetzt haben wir 90 Sekunden Zeit, uns in Sicherheit zu bringen. Meine Tochter (1½) schläft neben mir im Bett, mein Mann (44), der schon beim Kaffee war, steckt den Kopf zur Schlafzimmertür rein: «Kommt sofort in die Toilette, da ist es am sichersten!» Auch meinen Onkel (77), der aus der Schweiz bei uns zu Besuch ist, treibt er ins kleine Bad. Die Sirenen klingen ab und wir hören, wie Raketen explodieren. Wir schalten das Radio ein, wo jeder Luftangriff und jedes Ziel gemeldet werden. Die Meldungen sind endlos. Um sich ein besseres Bild machen zu können, ruft mein Mann seinen Schwager an. Dieser lebt im Kibbuz Revadim, nur ein paar Kilometer von Gaza entfernt. Er ist gerade dabei, seinen 19-jährigen Sohn – meinen Neffen – verfrüht aus dem Urlaub auf die Armeebasis zurückzufahren. «Es ist schlimm, was hier passiert», sagt er. «Die Hamas sind ins Land eingedrungen und schiessen wild um sich.» Nach dem Telefonat ist mein Mann nicht mehr derselbe. Er versteht sofort, dass gerade etwas Furchtbares passiert. Er schaltet den Fernseher an, wir hören etwas von einer grossen Trance-Party, die an der Grenze zu Gaza stattgefunden hat. Es ist Simchat Tora, eigentlich ein Feier- und Freudentag. Doch wir bleiben den ganzen Tag drinnen, verunsichert.

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Sonntag, 8. Oktober

Doch das Gesicht meines Mannes sagt alles: Tief erschüttert und angespannt läuft er mit seinem Handy und Kopfhörern durchs Haus. Ich hatte ihn gebeten, die Nachrichten nicht vor unserer Tochter zu konsumieren und mir ab und zu ein Briefing zu geben. Mein Onkel will raus. Von einer Freundin habe ich gehört, dass es auf zwei der beiden Spielplätze in unserer Nähe einen Bunker gibt. Also wagen wir uns. Unterwegs ruft mich meine Schweizer Freundin an, die mit ihrem Mann und Kind am Toten Meer feststeckt und nach Hause in die Schweiz fliegen will. Ein Israeli hat ihnen geraten, das Land möglichst schnell zu verlassen, doch ihr Swiss-Flug wurde gestrichen. «Bleibt möglichst ruhig. Im Kibbuz Ein Gedi seid ihr relativ sicher», rate ich ihnen. Auf dem Spielplatz angekommen, rennt meine Tochter glücklich zur Schaukel und später auf die Rutschbahn, sie quietscht und freut sich über ihre kleinen Freunde, die sie antrifft. Doch die Welt auf dem Spielplatz ist nicht wie sonst: Es sind vor allem Grosseltern und Mütter, die ich antreffe. Die Väter wurden eingezogen. Wer ist wo stationiert? Bei «Norden» oder «Osten» atme ich auf, bei «Gaza» wird es still – auch wenn wir auf die Opfer zu sprechen kommen. Jeder kennt jemanden, der gestorben ist. Ganze Familien wurden ausradiert. Es fällt das Wort «Pogrom». Obwohl in Israel heute die neue Woche beginnt, bleiben die Schulen, die Kitas und die meisten Geschäfte geschlossen.

Montag, 9. Oktober

Mein Schwiegervater klopft an die Tür, will wissen, wie es uns geht. Beglückt über den Besuch, nimmt meine Tochter ihren Grossvater an der Hand und steigt die Treppe runter auf die Strasse. Kaffee, denke ich, doch da erklingen Sirenen. Barfuss und im Pyjama renne ich auf die Strasse, packe meine Tochter, winke einen Passanten mit Kinderwagen mit rein und suche in unserem Keller Schutz. Auch alle anderen Bewohner unseres Wohnhauses sind mit Hund und Kindern hier – unterdessen wissen wir alle, dass dies der sicherste Ort im Haus ist. Der Schock sitzt so tief, dass ich mich erst spätnachmittags wieder nach draussen wage. Nur kurz auf den Spielplatz, um frische Luft zu schnappen, denke ich. Doch wieder erklingen Sirenen. Den Kinderwagen lasse ich stehen und renne mit meinem Kind über den Rasen in den Bunker. Meine Tochter lacht. Als wir wieder aus dem Bunker rauskommen, habe ich zwei verpasste Anrufe meines Mannes: «Wo seid ihr? Kommt sofort nach Hause.» Mein Kind rennt über den Rasen zurück zu unserem Buggy und lacht erneut. Sie denkt, es ist ein Spiel. Abends gibt es Raclette. Ich lege Musik auf, meine Tochter zeichnet am Tisch, und wir singen bei einigen Liedern mit. «Ist es lächerlich, etwas Normalität bewahren zu wollen?», frage ich meinen Schwiegervater. Er hat seit den 50ern alle Kriege in Israel miterlebt. «Nein, Süsse, das ist wichtig. Mach weiter so.»

Sicherheitskräfte in den Strassen von Jerusalem.
Foto: Anadolu via Getty Images
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Dienstag, 10. Oktober

Die ganze Nacht habe ich gehört, wie Militärflugzeuge über Jerusalem fliegen und Munition und Equipment verschieben. Mein Mann ist im Café. Er hat heute zum ersten Mal seit Ausbruch des Krieges einen seiner drei Läden geöffnet. Er befindet sich im Parterre unseres Wohnhauses. Jeder Kunde kommt mit seinen Geschichten, seinen Verlusten, seinen Ängsten. Auch meine Schwägerin aus Jerusalem schaut vorbei, ihr einmonatiges Baby schläft in der Trage. «Gestern hat er fast nichts gegessen. Er konnte nicht richtig an der Brust andocken, weil ich so gestresst war. Ich hatte Panikattacken», erzählt sie mir, und ich sehe ihr an, dass sie sich schuldig fühlt. Gestern Abend wurden wir von der Regierung angewiesen, Vorräte einzukaufen und alles für eine längere Isolation vorzubereiten. Abends spricht Biden, und als er Golda Meir zitiert, spricht er vielen Israeli aus dem Herzen. «We don’t have anywhere else to go», soll sie ihm kurz vor dem Jom-Kippur-Krieg gesagt haben, als er noch ein junger Senator war – wir haben keinen anderen Ort, an den wir gehen können.

Mittwoch, 11. Oktober

Seit heute hagelt es auch Bomben aus dem Libanon, der sich im Norden befindet. Wir brauchen Windeln und Gemüse, doch im Coop, wo wir normalerweise einkaufen, sind die Regale leer. Ich komme nur nachts zum Arbeiten, von 22 bis 2 Uhr, wenn alles schläft. Nach Mitternacht erhalte ich eine Nachricht meiner Schweizer Freunde, sie konnten nach Rom ausreisen.

Donnerstag, 12. Oktober

Auch mein Onkel fliegt heute in die Schweiz. Meine Nachbarin kommt aus den Ferien in Vietnam zurück, ihr Mann rückt sofort ein. Sie bleibt mit ihrer kleinen Tochter zu Hause. Für uns stellt sich die Frage: Reisen wir mit den kleinen Kindern aus? Bislang wollte ich bleiben. Ich fühle mich solidarisch verbunden mit allen, die noch da sind. Mit Verspätung fliegt um 19.21 Uhr mein Onkel aus.

Freitag, 13. Oktober

Die Ruhe vor dem Sturm. Israel hat die Einwohner im Norden des Gazastreifens aufgerufen, das Gebiet binnen 24 Stunden zu verlassen. Um 9 Uhr öffnet die Kita ihre Tore, um den Kindern eine Spielstunde zu ermöglichen und die Eltern etwas zu entlasten. Obwohl es der Luftschutzkeller ist, in dem sich ihre gewohnten Spielsachen befinden, fühlt sich meine Tochter wie ein Fisch im Wasser. Sie spielt selbständig, freut sich über ihre Gspänli, und ich sinniere einer Nachricht nach, die mir eine Bekannte vom EDA gesendet hat: «Es sieht so aus, dass es nächste Woche keine Flüge geben wird und morgen noch eine gute Gelegenheit wäre.» Sollen wir einfach die Koffer packen und gehen? Was kommt noch auf uns zu? Meine Schwägerin und ihr Mann durften heute kurz an die Tore der Militärbasis fahren, um ihren Sohn in die Arme zu nehmen, bevor er wieder zurück in den Krieg geht. Abends lese ich in den Schweizer Zeitungen, wie sich die Lage in Gaza entwickelt. Nach all den Versuchen, den Alltag zu managen und eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten, verstehe ich endlich tief in meinen Zellen, dass die Tragödie erst angefangen hat. Per Mail erfahre ich, dass die Swiss die beiden Rettungsflüge aufgrund von Sicherheitserwägungen storniert. Mich überkommt Panik. Was wird diese Nacht geschehen?

Samstag, 14. Oktober

Die Nacht blieb ruhig, doch der Klang der Flieger und das dumpfe Geräusch von Raketen weiter weg sind nervenaufreibend. Es herrscht Angst, Verwirrung. Mein Mann, der in der Armee war, als Israel noch den Südlibanon besetzte, sagt, er rieche Schiesspulver. In unserem Wohnquartier singen die Gläubigen Gebetslieder. Lauter und fordernder als normalerweise, habe ich das Gefühl. Meine Tochter hält ihren Mittagsschlaf. So fühlt sich also Krieg an.


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